Armut

Armutsbekämpfung in der Schweiz im Spannungsverhältnis zwischen privaten Akteuren und Staat im 19. Jahrhundert

Vertiefung: Die Armutsbekämpfung der GGK in St. Gallen

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Armut in grossen Teilen der Bevölkerung als gottgewollte Erscheinung verstanden. Während die «gottgewollte Armut» vor dem Hintergrund christlicher Überzeugungen ab dem Mittelalter positiv aufgefasst wurde, erfuhr Armut im Zuge der Industrialisierung eine negative Konnotation. Gleichzeitig aber wurde sie als ein durch Gesellschaft und Politik zu beseitigendes Problem wahrgenommen.

Mit der Industrialisierung wurde Armut als sogenannter Pauperismus zum Massenphänomen. Es wurde deutlich, dass Armut auch die arbeitende Bevölkerung betraf, und der reformorientierte Teil der Gesellschaft realisierte, dass etwas dagegen unternommen werden musste – sei dies aus gemeinnützigen oder wirtschaftlichen Interessen. Auf Gemeinde- und Kantonsebene gab es bereits vor der Bundesstaatsgründung Ansätze für eine Armutsbekämpfung. Jedoch waren es vornehmlich private Organisationen, welche die Initiative ergriffen, um der wachsenden Armut etwas entgegenzusetzen. Diese zivilgesellschaftlichen Akteure waren mit dem Vorgehen der Behörden nicht einverstanden. Viele der sich bildenden Organisationen standen dem aufstrebenden Liberalismus nahe. Sie vertraten die Überzeugung, dass die Armutsbekämpfung eine vorab gesellschaftliche und nicht staatliche Angelegenheit sei. Dazu kamen religiöse Organisationen, welche sich ebenfalls in der Armutsbekämpfung engagierten. Die privaten Vereinigungen, die sich der Bekämpfung der Armut verschrieben hatten, standen in Wechselwirkung mit staatlichen Institutionen, indem jene ihnen Betreuungsaufgaben zuwiesen. Zugleich entwickelte sich aber auch ein Spannungsverhältnis, da sich der Staat – nicht zuletzt auf Bundesebene – ab Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt als zentrales Organ der Armutsbekämpfung verstand.

Arm trotz Arbeit

Beitrag der Sendung «Antenne» des Schweizer Fernsehens vom 16. Dezember 1965 über Armut in der Stadt Zürich; Relevante Szenen: 4.30 – 5.10; 7.40 – 8.10
Das Elend am Zürcher Stadtrand steht exemplarisch für ein sozialpolitisches Problem, mit welchem sich die Menschheit seit jeher auseinandersetzen muss: Armut. Menschen, welche sich trotz Erwerbsarbeit keine Wohnung leisten, ihre Rechnungen nicht bezahlen können oder hungern müssen. Die Bedeutung von Armut hat sich in der Zeit vom 18. hin zum 19. Jahrhundert stark verändert. Wurde Armut im 18. Jahrhundert vor allem noch aus einer religiösen Perspektive betrachtet, lag der Fokus im 19. Jahrhundert auf dem Elend der Arbeiterschaft. In der noch vorab christlich geprägten Betrachtung von Armut im 18. Jahrhundert, die ihren Ursprung in der Neuinterpretation des Neuen Testamentes im Mittelalter hatte, wurden all jene als «arm» bezeichnet, denen es in irgendeiner Hinsicht an sozialer Stärke fehlte. Armut wurde als geistiger Wert betrachtet, der in der Lehre der Barmherzigkeit eine wichtige Rolle einnahm. Die selbstgewählte Armut wurde folglich als wertvolle Daseinsform erachtet. Symbol jener Armutsbewegung war der nackte Christus am Kreuz.

Mit der stetigen industriellen Entwicklung, welche vor allem die Heimarbeit zurückdrängte, dem Niedergang des Leinengewerbes und dem Aufschwung der Baumwollindustrie wuchs in der Schweiz eine immer grössere Arbeiterschaft heran. Das Angebot an Arbeitskraft wurde durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft und die fehlenden Erwerbsmöglichkeiten auf dem Land noch vergrössert. Da der Arbeitsmarkt dem freien Markt überlassen wurde, führte dies zu tiefen Löhnen, auch wenn in der Baumwollindustrie mehr Arbeitskräfte nachgefragt wurden. Arbeiterinnen und Arbeiter und deren Familien konnten so oft von ihrem Lohn nicht leben und waren daher bitterer Armut ausgesetzt. Hungerkrisen und fehlende Erwerbsmöglichkeiten führten zudem dazu, dass sich Armut auch auf dem Land stark verbreitete. Armut konzentrierte sich jedoch aufgrund der überproportionalen Betroffenheit der Arbeiterschaft und Industrie zunehmend in den Städten. Die Armut in den Städten war deutlich sichtbarer, da sich das bäuerliche Leben auf dem Land auf den Kreis des eigenen Dorfes beschränkte. Diese Entwicklung führte im frühen 19. Jahrhundert zu einer Massenarmut, die nicht mehr vom traditionellen System der Fürsorge, den Heimatgemeinden, getragen werden konnte.

Die Menschen in dieser Armensiedlung am Zürcher Stadtrand bewohnen aus Kostengründen Holz- oder Blechhütten und haben keine hauseigenen sanitären Anlagen. Der Beitrag aus der SRF-Sendung «Antenne» aus dem Jahr 1965 zeigt zudem, dass sich in diesem «Wohnquartier» keine benutzbare Infrastruktur wie Strom, gepflasterte Wege oder eine Heizung findet. Laut den Aussagen der Bewohnenden wurde bereits mehrmals bei der Stadt Zürich um Unterstützung gebeten, diese wurde jedoch trotz etlichen Besuchen eines Stadtbeamten nicht geleistet. Der zuständige Stadtrat erkannte die Herausforderungen, sprach jedoch eigentumsrechtliche Probleme an, nach welchen die Bewohnenden der Siedlung auf privatem Grund stünden und diesen zu räumen hätten. Der Stadtrat sei jedoch gewillt, etwas gegen die unbefriedigende Situation zu unternehmen. Die Armut ist in diesem Beispiel offensichtlich, jedoch ergreift keine Stelle, weder staatlich noch privat, die konkrete Initiative.

Wahrnehmung von Armut in der Bevölkerung

Es waren immer Arme, das Verhältnis zu ihnen hat im Christenthum seine eigenen Bestimmungen, es findet aber auch seit langem schon in vielen Gesetzgebungen seine Berücksichtigung. Aber nie noch waren die Armen so zahlreich im Verhältnis zu den Besitzenden wie jetzt, nie war in christlichen Staaten durch viele Länder durch ihre Haltung gegen die Besitzenden so drohend, ihre Stimmung so feindselig, und nie noch erzuegte sich die Armuth so fast aus sich selbst, war so erblich, so ansteckend, so aussatz-, krebsartig wie jetzt.

Ausschnitt aus dem Buch «Armennoth» von Jeremias Gotthelf, 1840
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Armut in grossen Teilen der Bevölkerung als gottgewollte Erscheinung verstanden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts änderte sich die Wahrnehmung von Armut. Armut wurde nicht mehr als selbst gewählt christlich verklärt, sondern sozial geächtet und als abweichendes Verhalten angesehen. Während die «gottgewollte Armut» vor dem Hintergrund christlicher Überzeugungen ab dem Mittelalter positiv aufgefasst wurde, erfuhr Armut im Zuge der Industrialisierung eine negative Konnotation. Armut wurde als Resultat individueller Selbstverschuldung gewertet. Zugleich aber realisierten reformorientierte Kreise auch, dass Armut auch die arbeitende Bevölkerung betraf und dass etwas dagegen unternommen werden musste – sei es aus gemeinnützigem oder eigennützigem Interesse. Somit wurde Armut auch als ein Problem verstanden, das gelöst werden müsse und auch lösbar war. Armut wurde somit nicht mehr wie früher als unveränderbarer und hinzunehmendes Phänomen verstanden.

In seiner sozialpolitischen Streitschrift «Armennoth» widerspiegelt 1840 (hier in einer Ausgabe von 1851) der Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf diese Veränderung der Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung von Armut. Mit einer Pest- und Seuchenmetapher thematisiert er die zunehmende Armut in breiten Bevölkerungsschichten. Mit der Industrialisierung wurde Armut als sogenannter Pauperismus als Massenphänomen wahrgenommen. Nach Gotthelf war dieses Massenphänomen menschengemacht, als Folge von Eigennutz, Gewinnsucht und Ausbeutung. Als «krebsartig» bezeichnet er, selbst aus einer konservativen Position heraus sozialpolitisch interessiert und engagiert, die Massenverelendung in der Gesellschaft als gesellschaftliches Übel, das die Gesellschaft bedrohe. Jeremias Gotthelf sprach sich für die Unterstützung von Armen aus. Diese sollten sie sich jedoch mit entsprechendem Verhalten verdienen.

Armutsbekämpfung aus Menschenliebe

Auszug aus dem Bericht über die konstituierende Versammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft mit der Rede des Präsidenten Hans Caspar Hirzel vom Mai 1810 in Zürich.
Auf Gemeinde- und Kantonsebene gab es bereits vor der Bundesstaatsgründung Ansätze für eine Armutsbekämpfung. Jedoch waren es vornehmlich private Organisationen, welche die Initiative ergriffen, um der wachsenden Armut etwas entgegenzusetzen. So nahm die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) 1810 ihre Tätigkeit auf. Am 15. Mai 1810 traf man sich in Zürich zur ersten Versammlung: Pfarrer, Bischöfe, Stadträte und weitere Vertreter aus vielen verschiedenen Kantonen (Zürich, Basel, Glarus, Aargau, St. Gallen, Thurgau, Zug, Uri, Schwyz, Luzern, Appenzell Ausserrhoden, Schaffhausen und Solothurn) waren die ersten Mitglieder und berichteten von Armenanstalten und dem geltenden Armenwesen in ihren Kantonen. Die Erfahrung, welche die kantonalen Vertreter in der SGG sammelten, nutzten sie später für die Gründung kantonaler Ableger wie auch der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen (GGK). Schon von Beginn weg kamen die humanitären Absichten der Vereinigung zum Ausdruck: So wird unter anderem vom Grundsatz gesprochen, dass jedes menschliche Individuum das Recht auf Selbsterhaltung besitze. Ein Grundsatz sei auch die Pflicht jedes Einzelnen, sich um seine Mitmenschen zu kümmern – unabhängig davon, welchen Rang man in der Gesellschaft einnehme.

Nebst der Wahl des Präsidenten besuchten die Anwesenden der Gesellschaft am ersten Verhandlungstag eine Lehranstalt für Blinde und einige Armenschulen. Die Aktivitäten anlässlich der ersten Versammlung der SGG verdeutlichen, dass das Augenmerk der Vereinigung von Anfang an auf das Armenwesen gerichtet war: Es wird fast ausschliesslich vom Wunsch gesprochen, die Armut zu bekämpfen.

Aufnahme aus der Waisenanstalt Walzenhausen (AR), zwischen 19011910
Mit der humanistischen, sozialreformerischen Motivation, etwas gegen Armut zu unternehmen, ging auch der Wunsch nach einer Normierung der Gesellschaft einher. Arme – seien es Suchtkranke, körperlich eingeschränkte oder sonst in Armut geratene Personen – wurden oftmals in Anstalten untergebracht. Nicht umsonst wird das 19. Jahrhundert in der Geschichtsschreibung auch als «Anstaltenjahrhundert» bezeichnet.

Das Bild zeigt die 1874 erbaute Waisenanstalt in Walzenhausen, Appenzell Ausserrhoden, im Zeitraum zwischen 1900 und 1910. Die Waisenanstalt steht stellvertretend für alle Institutionen, kommunale oder private, die sich um Bedürftige kümmerten. Die Versorgung und Ausbildung der Waisen war vielfach ein abgegrenztes Arbeitsfeld der bürgerlichen Armenpflege.

In Walzenhausen war die Waisenanstalt mit dem Armenhaus vereinigt und wurde von der Gemeinde selbst geführt. Auf dem Bild sind Kinder zu sehen, die unter Vormundschaft der Gemeinde standen. Das Foto wurde vor dem Waisenhaus aufgenommen und die Kinder umrahmen die Heimleitung, genannt «Waiseneltern». Auf dem Bild ist zu sehen, dass das Waisenhaus geschlechter- sowie altersgemischt geführt wurde.

Da sehen wir denn, dass fast überall bei der Anstalts- und Privatversorgung das Bestreben in den Vordergrund tritt, die Kinder zu einer verdienstbringenden Arbeit anzuhalten, indem die Rücksicht auf finanzielle Bedenken nirgends ausser Acht gelassen werden darf!

Auszug aus dem Vortrag über die berufliche Ausbildung von Waisen in Appenzell Ausserrhoden von Pfarrer Johannes Diem vor der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft, 1898.
In der Waisen- und Armenanstalt Walzenhausen wurden Waisenkinder betreut und auf ihr Erwerbsleben vorbereitet. Damit steht die Waisenanstalt exemplarisch für Armenanstalten im 19. Jahrhundert. Nebst der Pflege von Bedürftigen, der wohltätigen und sozialen Motivation, lag der zweite Aspekt auf der Normierung oder Disziplinierung der Gesellschaft. Arme sollten zu Fleiss und Disziplin erzogen werden, um in der Arbeitswelt nützlich zu sein. Dies geschah in Walzenhausen durch die Ausbildung der Waisen zu arbeitsfähigen Bürgern und wurde geschlechterspezifisch gestaltet. Während bei den kleineren Kindern die Arbeit im Textilbereich verbreitet war, wurden ältere Mädchen in «Haushaltssitte» und ältere Knaben in handwerklichen Belangen ausgebildet, um sie anschliessend in die Erwerbswelt zu entlassen. Diese industriellen Arbeiten im Kindesalter, vor allem Weben und Ausschneiden, werden auf dem Bild mit den Stickrahmen auf den Seiten präsentiert.

Aus dem Vortrag von Johannes Diem, protestantischer Pfarrer aus Teufen, geht hervor, dass die Kinder aus dem Waisenheim, im Gegenteil zu jenen aus intakten Familienverhältnissen, eine Ausbildung geniessen konnten, die der lokalen Wirtschaft nützlich war. Während in einer kinderreichen Familie oft nur wenige Kinder eine Arbeit ausserhalb des eigenen Hofes antraten, wurden die Kinder aus der Waisenanstalt passend für genau jenen Arbeitsmarkt ausgebildet.

Unter Waisen haben wie hier und Verlaufe des Vortrages stets zu verstehen die unter der Vormundschaft der Gemeinde stehende, von ihr zu erziehende, in Anstalten oder bei Privaten versorgte Jugend, im Gegensatze zu den Söhnen und Töchter, die ohne Hülfe der Gemeinde bei Eltern oder Verwandten aufwachsen und die Unterstützung des Heimatortes nur zur beruflichen Ausbildung in Ansprung nehmen.

Auszug aus dem Vortrag über die berufliche Ausbildung von Waisen in Appenzell Ausserrhoden von Pfarrer Johannes Diem vor der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft, 1898

Das Zepter selbst in die Hand nehmen

Auszüge aus «Postulate für ein st. gallisches Armengesetz», gehalten an der Hauptversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen 1910 von Pfarrer Albert Rothenberger
An der Hauptversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen von 1910 stellten die Mitglieder Postulate für ein st. gallisches Armengesetz auf. In einem Vortrag von Herrn Pfarrer Albert Rothenberger wurden die Forderungen erläutert. Rothenberger war ab 1901 Pfarrer in der St. Galler Kirche Linsebühl. Dazu war ihm als Mitglied der GGK die Jugendfürsorge sehr wichtig.

Der Referent betont, dass die Kluft zwischen Arm und Reich aktuell nicht nur eine Nebensächlichkeit geworden, sondern viel empfindlicher und schmerzlicher als je zuvor geworden sei. Zu dieser Zeit veränderte sich die Erwerbssituation von vielen Menschen rasant im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung. Die Arbeit wurde den Mechanismen des freien Marktes unterworfen, was zu tiefen Löhnen und Ausbeutung der Arbeiterschaft führte. Diese Umstände führten mitunter zu Armut innerhalb der Bevölkerung. Rothenberger sah es deshalb als Pflicht eines jeden Bürgers, welcher «einen von Vorurteilen ungetrübten Blick in die sozialen Verhältnisse der Gegenwart besitzt, und zugleich ein warmes, den natürlichen Egoismus überwindendes Herz hat», dem entgegenzutreten. Gleichzeitig wird die freisinnige Gesinnung der GGK deutlich, indem sich Rothenberger – zwar nicht in aller Deutlichkeit – vom Ideal des Sozialismus distanziert und hervorhebt, man müsse nun selbst Hand anlegen, um die vorhandenen Missstände zu beheben und zu mildern. Auch hier wird das freisinnige Ideal der Eigenverantwortung und der gegenseitigen Hilfe deutlich. Er wird konkret, indem er die Armenpolitik des Kantons St. Gallen anprangert: «Da scheue ich mich denn nicht, es offen auszusprechen, dass es auch für die st. gallischen Behörden und das st. gallische Volk eine Ehrenpflicht ist, endlich einmal Hand anzulegen an den heutigen Verhältnissen angepasster Revision unseres kantonalen Armengesetzes.» Das Gesetz wurde 1835 erlassen und sei bereits 75 Jahre alt und somit nicht mehr der gewaltigen wirtschaftlichen Umgestaltung angepasst, welche sich seither vollzogen habe.

Rothenberger weist auf diverse Unzulänglichkeiten im kantonalen Armengesetz hin, welche nach Auffassung der GGK nicht ausreichen würden, um den hilfsbedürftigen Menschen in ausreichendem Masse Unterstützung zu leisten. Er geht etwa auf die hohen behördlichen Hürden im Streit zwischen Heimat- und Wohngemeinden ein und die damit verbundenen ungenügenden Hilfeleistungen für die Armutsbetroffenen. In diesen Konflikten ging es darum, ob die Heimat- oder die Wohngemeinden für die Versorgung von Armutsbetroffenen aufkommen müssen. Da die Armenfürsorge kostspielig war, wurden die Betroffenen zwischen den Gemeinden hin- und hergeschoben, um die eigenen Kassen möglichst nicht zu belasten. Rothenberger fügt ein eindrückliches Beispiel aus dem Armengesetz an: «Nicht-Kantonsbürger und Fremde können wohl zu Armensteuern herbeigezogen werden, haben aber kein Anrecht auf Unterstützung; sie werden im Falle der Notarmenunterstützung als ‘polizeilicher Gegenstand’ behandelt und nach Art. 15 bei unvorhergesehenem Unglücksfall oder schwerer Krankheit nur verpflegt, bis die Betroffenen transportfähig sind und in ihre Heimat zurückgebracht werden können.»

Aus dem Vortrag geht ebenfalls hervor, dass die GGK in regem Austausch mit der Politik stand, indem beispielsweise Politiker den Verhandlungen der GGK beiwohnten oder gar Mitglied waren. Dies mit Erfolg, gab es doch im späten 19. Jahrhundert einige Verbesserungen im Armenwesen. Auf Basis seiner Ausführungen stellt Rothenberger im Namen der GGK abschliessend Postulate für das Armengesetz auf. Darin finden sich Forderungen nach strengerer Aufsicht in Waisenhäusern, Reorganisation von Armenhäusern und auch nach der grundsätzlichen Revision des Armengesetzes. Beispielsweise sollten die Strukturen in den Armen- und Waisenhäusern professionalisiert werden, um eine bessere Fürsorge sicherzustellen. Zudem solle die körperliche Züchtigung in den Anstalten untersagt werden, was eine deutlich humanitäre Haltung zeigt. Die GGK bringt ausserdem Vorschläge zur Organisation und Finanzierung der Anstalten: Das Wohnort- und Heimatprinzip soll verbunden werden, indem vorerst die Wohngemeinde unterstützungspflichtig sei. Nach zwei Jahren sollen die Heimatgemeinden die Armen unterstützen. Eine Finanzierungsquelle der Fürsorge sollen Armensteuern von Niedergelassenen sein. Die Absicht der GGK wird in diesen Postulaten zusammenfassend ersichtlich: Arme sollen unterstützt werden, und dies auf eine humane Art und Weise. Forderungen waren beispielsweise:

3. Durchführung von regelmässigen Inspektionen von Armenhäusern und Waisenhäusern durch besondere, im Armen- und Erziehungswesen erfahrene Persönlichkeiten, eventuell Anstellung eines kantonalen Armeninspektors..


4. Verbot der körperlichen Züchtigung von Armenhausinsassen und der Verwendung von mittelalterlichen Strafmitteln, wie Halsring oder Lotz.

10. Revision des Armengesetzes von 1835, die den heutigen veränderten sozialen Verhältnissen angepasst ist. Verbindung von Territorial- und Heimatprinzip in dem Sinne, dass die Wohnortsgemeinde zunächst 2 Jahre die Unterstützungspflicht der Notarmen hat. Separate Armensteuer der Niedergelassenen für die Einwohnerarmenpflege.

Auszüge aus «Postulate für ein st. gallisches Armengesetz», gehalten an der Hauptversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen 1910 von Pfarrer Albert Rothenberger

Das Aufkommen der Gewerkschaften als Zäsur

Karikatur aus der Zeitung «Der Nebelspalter» vom 17. März 1877
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierte sich aus der breiten freisinnigen Strömung eine neue Kraft, die im Spannungsverhältnis zu den liberalen Institutionen massgeblich zur Veränderung der Verhältnisse in der Armenfürsorge beitrug: Die Gewerkschaften. Sie sahen Armut als strukturelles Problem und Folge der Ausbeutung der Arbeiterschaft und forderten, dass der noch junge Bundesstaat für die Armenfürsorge aufkommen solle. Zu Beginn fanden diese Forderungen im liberal dominierten Staat wenig Anklang. Doch die Gewerkschaften gewannen an Einfluss, so etwa waren sie massgeblich an der Einführung der Fabrikgesetzes 1877 beteiligt. Vor allem die bürgerlichen Hilfsorganisationen sahen sich durch die Expansion des Staates in die Sozialpolitik bedroht: Einerseits könnten ihre Einrichtungen obsolet werden, sollte die Armenfürsorge zentralisiert durch den Staat geregelt werden, andererseits standen die Forderungen der Gewerkschaften in Konkurrenz zu bürgerlichen Idealen. Der Staat sollte möglichst schlank bleiben und die finanziellen Ausgaben so gering wie möglich halten.

Die Gewerkschaften bilden bis heute einen zentralen Pfeiler in der schweizerischen Sozialpolitik. Mittlerweile in viele verschiedene Ableger für verschiedene Branchen aufgeteilt, vertreten sie die Interessen der Arbeitnehmenden. Sie beteiligen sich an den jährlichen Lohnrunden und schlichten Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden.

Die Karikatur aus der Zeitung «Der Nebelspalter» aus dem Jahr 1877 erschien zum Fabrikgesetz. Sie zeigt einen Mann mit Werkzeugen und neben ihm die Personifikation der Satirezeitschrift mit spitzer Feder «bewaffnet». Der unter der Karikatur stehende Text erklärt die Karikatur: Der Mann ist aufgrund zu lascher Gesetze in der Arbeit gefangen, obwohl er bereits sehr alt ist. Zeit seines Arbeitslebens wartet er auf eine bessere, arbeiterorientierte Gesetzeslage. Diese sei durch die Blockade der Konservativen und Ultramontanen (d.h. der Katholisch-Konservativen) noch nicht zustande gekommen. Der Nebelspalter positioniert sich als Retter, indem er sich für das Fabrikgesetz einsetzt. Dies wird auch anhand der politischen Ausrichtung des Blattes deutlich, hatte sich der Nebelspalter doch gegen Konservatismus und für sozialpolitische Massnahmen eingesetzt.

Das Fabrikgesetz von 1877 war das erste Gesetz in der Geschichte der Eidgenossenschaft, welches Arbeitsbedingungen schweizweit regelte. Auf Druck der Gewerkschaften wurden etwa strengere Regeln für Kinder- und Frauenarbeit erlassen und auch die männlichen Arbeiter wurden rechtlich besser geschützt. Es war ein Gesetz von Signalwirkung, erliess doch die Eidgenossenschaft in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Gesetze für den besseren Schutz der Arbeitnehmerschaft gegenüber ihren Fabrikherren.

Gemeinnützigkeit und Staat im Spannungsverhältnis? Die 200jährige Geschichte der Gemeinnützigen Gesellschaft St. Gallen 

Interview mit dem ehemaligen Präsidenten der GGK St. Gallen, Hubertus Schmid
Nachdem die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) um 1810 den Weg für gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweizerischen Eidgenossenschaft geebnet hatte, gingen verschiedene Tochtergesellschaften aus ihr hervor – so ab 1819 auch die Gemeinnützige Gesellschaft St. Gallen und Appenzell, die vorerst noch St. Gallisch-Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft (SAGG) hiess und sich 1858 in einen Appenzeller und St. Galler Ableger (GGK) spaltete.  

Hubertus Schmid war Präsident der Gemeinnützigen Gesellschaft St. Gallen (GGK) von 2007 bis 2020. Im Interview erzählt er von der Entwicklung der GGK seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert. Die Gründung der SAGG verortet er an einer «Zeitenwende», denn 1817 und 1818 hatten Hungersnöte in der Ostschweiz gewütet und die Leute seien hilflos gewesen. Man habe nach Lösungen gesucht, als klar wurde, dass der junge Kanton St. Gallen und die Gemeinden mit der Situation überfordert gewesen seien. Der Zweck der GGK habe darin bestanden, auf der Grundlage der Gemeinnützigkeit anzuregen und zu fördern, was der materiellen und geistigen Wohlfahrt im Kanton St. Gallen diene – insbesondere im Gebiet der Bildung, Gesundheit und Wirtschaft. Armut sollte aus Sicht der GGK grundsätzlich vermieden und nicht nur behoben werden. 

Durch die industriellen Veränderungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, ein sich rapide weiterentwickelndes Bildungssystem und die Gründung des Bundesstaats 1848 sah sich die SAGG von Anfang an mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Die St. Galler und Appenzeller Gemeinnützigen griffen verschiedene aktuelle Probleme auf, liessen diese untersuchen und Lösungsvorschläge erarbeiten. Die Tätigkeit der SAGG war aber auch unter «Vorsorge statt Fürsorge» zu verstehen, da nicht nur reaktiv, sondern auch präventiv Projekte in Angriff genommen wurden. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkte die GGK mit finanziellen Mitteln gewissen Herausforderungen entgegen. So forderte die SAGG beispielsweise grundsätzliche Verbesserungen in den Volks- und Berufsschulen für Knaben und Mädchen. Denn nach ihrer Auffassung schützten unter anderem Bildung, Fleiss und Arbeit vor Armut. 

Bevor die SAGG selbst grosse Projekte realisierte, kamen in den 1840er Jahren Vorwürfe auf, sie lasse nur Worte statt Taten walten. So sah sich die SAGG gezwungen, vermehrt selbst die Initiative zu ergreifen. Sie baute zum einen Heime und Gesundheitsinfrastruktur auf. Die 1860 geschaffene private Taubstummenanstalt und das 1867 eröffnete Gemeindespital – der Vorgänger des heutigen Kantonsspitals – gingen auf die GGK zurück. Weil arme Bürgerinnen und Bürger bei Mobiliarkassen in Notzeiten nur gegen Hinterlegung von Besitztümern aus ihrem Haushalt Darlehen aufnehmen konnten, ergriff die GGK auch in diesem Bereich die Initiative. Auch die Beförderung des Versicherungswesens stellte einen Arbeitsschwerpunkt dar. SAGG gründete so 1854 die «Kreditanstalt in St. Gallen» (heutige acrevis AG) und die «Helvetia Versicherung» im Jahr 1858. 1881 arbeitete die GGK schliesslich mit den Schwestergesellschaften aus Basel und Zürich zusammen, woraus die «Schweizerische Sterbe- und Alterskasse Basel 1881» entstand (ab 1912 Patria Lebensversicherungs-Genossenschaft). 

Die Schaffung der GGK fiel in Gründungswelle neuer gemeinnütziger Vereinigungen, die sich der Bekämpfung der Armut verschrieben hatten. Oft wich deren Armutsverständnis von den etablierten Vorstellungen ab. Sie sahen sich als Ergänzung zu staatlichen Massnahmen, insbesondere in Feldern, die staatlicherseits gar nicht beachtet wurden. Zugleich standen diese Organisationen – so auch die GGK – in Wechselwirkung mit staatlichen Institutionen, indem jene ihnen Betreuungsaufgaben zuwiesen. Diese Zusammenarbeit sieht auch Schmid von Anfang an als gegeben an. Man war mit staatlichen Behörden verflochten, denn der Erziehungsdirektor der St. Galler Regierung sei konstant während über 200 Jahren immer im Vorstand der GGK vertreten gewesen. Dieses Zusammenwirken sei für den Erfolg der GGK am Anfang notwendig gewesen. Bezeichnend für die GGK sei auch gewesen, dass sie zu Beginn eine Plattform für Menschen aus allen Bereichen (Gemeindevertreter, Religionsvertreter, Vertreter aus verschiedenen Berufsgruppen etc.) gewesen sei.  

Ein aufkommendes Spannungsverhältnis zwischen GGK und Staat macht Schmid für die Zeit um den Zweiten Weltkrieg aus. Bis dahin habe eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen GGK und Staat bestanden. Durch den Auf- und Ausbau des Soziaalstaates seien dann aber private und staatliche Akteure gewissermassen zu Konkurrenten geworden. Dieser Konkurrenzkampf würde bis heute anhalten. Zudem könnten die freiwilligen Organisationen – vor allem aus Mangel an finanziellen Mitteln – immer weniger mit den Anforderungen des Staates an die zu erbringenden Dienstleistungen mithalten.

Quellenverzeichnis
Titelbild
o.A. (ca. 1901-1910). Waisenanstalt Walzenhausen (Gruppenbild vor Gebäude) – Bilder aus Anstalten des Schweizerischen Armenerziehervereins zur Landesausstellung Bern 1914. In Schweizerisches Sozialarchiv. F Fe-0002-07. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Fe-0002-07 (16.04.2023).

Arm trotz Arbeit
Schweizer Radio und Fernsehen (1965). Baracken-Siedlung am Stadtrand | Armut in Zürich (1965) | SRF Archiv (04.03.23).Online unter: Baracken-Siedlung am Stadtrand | Armut in Zürich (1965) | SRF Archiv (16.04.2023).

Wahrnehmung von Armut in der Bevölkerung
Gotthelf, J. (1851). Armennoth. Zweite durchgesehene und mit einem Schluss-Capitel vermehrte Version. Berlin: Julius Springer. Online unter:
https://www.google.ch/books/edition/Die_Armennoth/3WVLAAAAcAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=Gotthelf+Armennoth.+Berlin&pg=PP9&printsec=frontcover (16.04.2023), S. 4.

Armutsbekämpfung aus Menschenliebe
Hirzel, H.C. (1810). Anrede an die Versammlung von schweizerischen Menschenfreunden in Zürich am 15. May 1810. In Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft die sich im May 1810 in Zürich versammelt hat. Zürich: Heinrich Gessner, S. 17–40, S. 18–21.
Diem J. (1898). Die Fürsorge der Gemeinden des Kantons Appenzell A. Rh. Für die berufliche Ausbildung ihrer Waisen. Appenzellische Jahrbücher, 26 (1898), 1-28, S. 1; 3.

Das Zepter selbst in die Hand nehmen
Rothenberger, C.A. (1910). Postulate für ein st. gallisches Armengesetz: Vortrag gehalten an der Hauptversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen in St.Gallen. o.O.: o.V., S. 23–24.

Das Aufkommen der Gewerkschaften als Zäsur
o.A. (17.03.1877). Zum Fabrikgesetz. [Karikatur]. In Nebelspalter. Online unter: https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=neb001%3A1877%3A3%3A%3A194 (15.04.2023).

Sammelbibliographie
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Epple, R. & Schär, E. (2010). Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz. 1200–1900. Zürich: Seismo.

Heiniger, A., Matter, S. & Ginalski, S. (2017). Die Schweiz und die Philantrophie: Reform, soziale Vulnerabilität und Macht (1850–1930). Basel: Schwabe.

Kramer, N. & Krüger, C. G. (2019). Einleitung. In N. Kramer & C.G. Krüger (Hrsg.), Freiwilligenarbeit und gemeinnützige Organisationen im Wandel. Neue Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert. (S. 9–32). Berlin/Boston: Walter de Gruyter.

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Lemmenmeier, M. (2003). Sozialer Wandel: Auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft. In St. Galler Geschichte, Bd. 5: Die Zeit des Kantons 1798-1861. (S. 37–55). St. Gallen: Niedermann Druck.

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Sassnick, F. (1989). Die Winterthurer Armenpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt sozialer Kontrolle. In A.-L. Head & B. Schnegg (Hrsg.), Armut in der Schweiz (17.–20. Jh.). (S. 133–157). Zürich: Chronos.

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Simon-Muscheid, K. & Schnegg, B. (2015). Armut. In Historisches Lexikon der Schweiz. Abgerufen von https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016090/2015-05-11/

Schmid, H. (2019). Worte, Taten und Motive. Eine Spurensuche bei der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen (1819-2019). Wittenbach: Ostschweiz Druck.

Die Autorin und die Autoren

Marius Hehli

Valerie Kühne

Ralf Rüthemann

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