Wohnen
Die Stadt St. Gallen im Wandel – Brennpunkt Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert
Vertierfung: Schorenquartier St. Gallen - Ein Pionierakt der Selbsthilfe
Die Raumplanung in Europa entwickelte sich in Zusammenhang mit der Industrialisierung, welche Probleme schuf, die mithilfe neuer Technologien und vernetzter Infrastruktur der Städte gelöst werden sollten. In Deutschland kamen Ende des 19. Jahrhunderts erste Lehr- und Handbücher zur Stadtplanung heraus, die versuchten, das Thema wissenschaftlich anzugehen und einheitliche Regeln zur Bebauung und Entwicklung von Städten zu schaffen. In vielen europäischen Städten wurden diese neu gesetzten Massstäbe als Grundsätze übernommen. Auch in der Schweiz, deren Anfänge der Raumplanung auf den Städtebau zurückgehen, orientierten Stadtplaner sich zunehmend am deutschen Vorbild. Zugleich suchten verschiedene Länder alternative Lösungen, um die von der Industrialisierung verursachten Probleme in den Städten zu beheben. Ebenezer Howard schuf in Grossbritannien die Vision der Gartenstädte, die sogar in St. Gallen Anklang fand.
Explosionsartiges Bevölkerungswachstum in St. Gallen
Dieser rasante Anstieg der Bevölkerungszahlen lässt sich am Beispiel der Gemeinde Straubenzell illustrieren. Straubenzell war eine politische Gemeinde westlich der Stadt St. Gallen, die aus den Quartieren Bruggen, Haggen, Kräzern, Winkeln und Lachen-Vonwil-Schönenwegen bestand. 1913 wurde die Gemeinde in die Gemeinde der Stadt St. Gallen eingegliedert.
Die Bevölkerungszahlen der Jahre 1880 und 1910 zeigen, dass sich die Wohnbevölkerung in der Gemeinde Straubenzell in einem Zeitraum von 30 Jahren verdreifacht hat. Auch in der Stadt St. Gallen hat ein Bevölkerungswachstum stattgefunden. Die Bevölkerungszahl hat sich im selben Zeitraum fast verdoppelt. Zwar hat auch in ländlichen Gebieten ein kleines Wachstum stattgefunden, aber keinesfalls in solchen Ausmassen wie in den Städten und den stadtnahen Gemeinden. Die Bevölkerungszahl im ländlichen Waldkirch hat sich beispielsweise zwischen 1880 und 1910 um nur gerade 203 Personen erhöht. Das entspricht einem Wachstum von gerade mal 7.8 %.
Siedlungsboom im Lachenquartier
Die Entstehung solch verdichteter Ortsteile lässt sich beispielhaft am Lachenquartier erkennen. Zwischen 1878 und 1883 bestand das Lachenquartier aus nur wenigen Häusern auf beiden Seiten der heutigen Zürcherstrasse (siehe Abb.2). Nur knapp 30 Jahre später ist das Quartier um einiges gewachsen (siehe Abb.3). Wo vorher nur einige Häuser waren, hat sich ein ganzes Quartier mit Seitenstrassen entwickelt. Auch im Vonwil-Quartier sind viele neue Bauten entstanden. Es lässt sich ausserdem erkennen, dass die einzelnen Gebäude teilweise sehr nahe nebeneinander stehen. Hier wurde also die Idee des verdichteten Bauens aktiv umgesetzt.
Die beiden Abbildungen sollen deutlich machen, dass im Zuge des Bevölkerungswachstums in kurzer Zeit viel neuer Wohnraum entstand. Die Quartiere wurden grösser und es wurde sehr verdichtet gebaut.
Wohnverhältnisse Bevölkerung von St. Gallen im Kontrast
Demgegenüber stand ein Bürgertum, das immer mehr bereit war, seinen Reichtum nach aussen hin zu zeigen. Im Kontrast zu den prekären Verhältnissen in den Arbeiterquartieren standen die prunkvollen Villen in den bürgerlichen Wohnquartieren. Auf der Abbildung 5 ist eine Villa am Rosenberg zu sehen. Das Bild ist um 1910 entstanden. Es zeigt nur eine der vielen Villen, die um diese Zeit am Rosenberg entstanden sind. Obwohl das Lachenquartier und der Rosenberg geografisch nicht weit voneinander entfernt sind, könnten die Lebensstile in den beiden Quartieren unterschiedlicher nicht sein.
Ein Leben im Paradies – die utopische Idee der Gartenstadt
Die Schulbank als Schlafplatz
Die Schorensiedlung, ein ehrgeiziges Projekt
Zur Umsetzung des Projektes entschied sich die St. Galler Eisenbahner-Baugenossenschaft für das bahnhofsnahe Rohnersche Gut der Gemeinde Straubenzell, welches eine Fläche von 84’600 m2 abdeckte. Wie aus der Quelle ersichtlich, betrug der damalige Kaufpreis des Areals oberhalb der Sitter schliesslich 152’000 Franken.
Opposition gegen das Baugenossenschaftswesen
Der «Schoren» nimmt Gestalt an
Durch die weitreichenden finanziellen Mittel, darunter auch Anteile aus den Pensionskassen der Schweizerischen Bundesbahnen, konnte die St. Galler Eisenbahner-Baugenossenschaft mit dem Schorenquartier einen herausragenden Erfolg verzeichnen. Bereits in einer ersten Bauphase konnten 181 Wohneinheiten errichtet werden. Als erste Schweizer Siedlung dieser Art verrichteten die Erbauer und Erbauerinnen eine regelrechte Pionierleistung im Bereich des nationalen Bauwesens. Eine Errungenschaft, die auch an anderen Orten, wie zum Beispiel im sanktgallischen Rotmonten, dazu inspirierte, in Eigeninitiative gartenstadtähnliche Siedlungen zu errichten. Dieser notgeleitete Tatendrang widerspiegelte sich auch in der rapiden Geschwindigkeit, mit welcher die Siedlung, hier spezifisch der zentrumsähnliche Kindergarten, erbaut wurde.
Einheit & Individualismus
Quellenverzeichnis
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Explosionsartiges Bevölkerungswachstum in St. Gallen
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Siedlungsboom im Lachenquartier
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Amtliche Vermessung (AV). Stadt St. Gallen (2022): Geoportal der Stadt St.Gallen. Historische Luftbilder und Pläne. Siegfriedkarte 1911-1914. Online unter: https://map.stadt.sg.ch/stadtplan/ext/?lang=de&basemap=sg_basisplan_f&blop=1&x=2744492.8&y=1253770.4&zl=8&hl=0&layers=Siegfried20 (05.01.23).
Wohnverhältnisse Bevölkerung von St. Gallen im Kontrast
Atelier H. Guggenheim & Co. (1910). Villen am Rosenberg, links Villa Bersinger, im Mondschein. In Staatsarchiv St. Gallen. ZMA 18/01.05-26. Online unter: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=655958 (07.01.23).
o.A. (nach 1889). Langgebäu, Süd- und Westfassade. In StAAR Mi ML – 04/291.
Ein Leben im Paradies – die utopische Idee der Gartenstadt
Howard, E. (1902). The Garden City Concept. Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Garden_City_Concept_by_Howard.jpg (07.01.23).
Die Schulbank als Schlafplatz
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Die Schorensiedlung, ein ehrgeiziges Projekt
o.A. (1909). Allgemeines Bauwesen – Bauwesen in St. Gallen. In Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung. 25(31). S.483. Online unter: https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=ihz-001%3A1909%3A25%3A%3A2021 (05.01.23).
Opposition gegen das Baugenossenschaftswesen
o.A. (1916). Verschiedenes. In Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung. 32(13). S.156. Online unter: https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=ihz 001%3A1916%3A32%3A%3A1370 (05.01.23).
Der «Schoren» nimmt Gestalt an
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Einheit & Individualismus
o.A. (1909). Wohnkolonie Schoorenhalde des Verkehrspersonals St.Gallen; Rückseite: 130 Einfamilien- und 14 Mehrfamilien-Häuser, 176 Wohnungen – 800 Bewohner. In Schweizerisches Sozialarchiv. F Ka-0001-165. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Ka-0001-165 (07.01.23).
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Die Autorinnen und die Autoren
Sebastian Rohner
Rebekka Schmid
Sara Willi