Wissen

Die Moderne: Das Zeitalter der Wissenschaft

Vertiefung: Die Verwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit

Das 19. Jahrhundert brachte einen Aufstieg der Wissenschaft, der das Leben in Europa nachhaltig veränderte. Dieser Prozess, der traditionelle, religiöse Überzeugungen in Frage stellte, wurde als Fortschrittsgeschichte wahrgenommen, als Weg hin zu immer mehr Wahrheit und einem besseren Leben für die Allgemeinheit. Zugleich erwies sich die Wissenschaft aber auch als ein Machtinstrument der weissen, bürgerlichen, männlichen Elite. Sie war es, die Wissenschaft betrieb. In ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Überzeugungen widerspiegelten sich ihre Interessen und nicht die Interessen aussereuropäischer Menschen, der Arbeiterschicht oder der Frauen. Als besonders problematisch erwies sich die Wissenschaft mit ihrer quasi-religiösen Autoritätsposition, als sie von Diktaturen für ihre totalitären Ideologien missbraucht wurde. In Form von Pseudowissenschaften richtete sie sich nun mit unermesslicher Gewalt gegen die Menschen. Aufgrund dieser Erfahrungen trat im Laufe des 20. Jahrhunderts neben Wissenschaftsgläubigkeit auch Wissenschaftskritik.

Vom Prozess der Verwissenschaftlichung war auch die Soziale Arbeit betroffen – allerdings sehr spät: Noch in der Zwischenkriegszeit prägten fachfremde Wissenschaftler die Praxis – und dies teilweise in problematischer Weise: Im Namen der Eugenik wurde die Diskussion geführt, ob eine Sterilisation von sogenannt psychopathischen Menschen notwendig für die Volksgesundheit sei. Erst in der Nachkriegszeit entwickelte sich die Soziale Arbeit zu einer eigenständigen Disziplin mit einem Ausbildungsgang, der wissenschaftlichen Grundsätzen folgte.

Der neue Glaube

Zeitungsinserat, das für elektrische Therapien wirbt, 1904/1905.  

Im 19. Jahrhundert wurde das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft zunehmend konfliktreicher. Durch die Ansichten der Wissenschaftler und ihre durch Forschung gewonnenen Erkenntnisse wurden traditionelle und religiöse Auffassungen infrage gestellt. Wissenschaft wurde zur Autorität. Es entstand ein quasi-religiöser Glaube an die Wissenschaft als Ort, wo die Wahrheit einsehbar würde. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden als Offenbarungen gefeiert und neue Technologien als Heilsereignisse.

Beispielhaft zum Ausdruck kommt dies im vorliegenden Zeitungsinserat, welches für elektrische Therapien wirbt. Darin wird kranken Menschen Hoffnung gemacht, dass auch sie wieder gesund würden. Schwerwiegende Krankheiten werden aufgezählt, welche mit der elektrischen Therapie behandelt werden könnten – und dies mit dem Ergebnis einer vollständigen Genesung.

Elektrizität wird als Errungenschaft der Wissenschaft zum Allheilmittel erklärt.

In einem Punkt unterscheidet sich die Wissenschaftsgläubigkeit aber von der traditionellen alteuropäischen Religiosität: In Ihrer Zukunftsorientierung fokussiert sie auf das Diesseits und nicht auf das Jenseits. Herrschte in der Vormoderne noch die Überzeugung vor, dass der Mensch für seine Mühen auf dieser Welt mit dem Seelenheil im Jenseits belohnt würde, so klingt die Werbung für elektrische Therapien gänzlich anders: Das Leiden ist kein Wert mehr, ebenso wenig sind es Bescheidenheit und Enthaltsamkeit. Den Schmerz gilt es nicht zu ertragen, sondern zu überwinden. Erstrebenswert ist es, voller Energie in dieser Welt zu stehen und mit ganzer Kraft für sein diesseitiges Glück zu kämpfen.

Weibliche Exotin in der Wissenschaft

Auf der Fotografie sind die österreichische Physikern Lise Meitner (1878–1968) und der deutsche Chemiker Otto Hahn (1879–1968) zu sehen. Gemeinsam führten sie im Bereich Radioaktivität Experimente durch. Dabei entdeckten sie 1918 das Element Nr. 91 Protactinium, was es in der Folge ermöglichte, den Zerfall radioaktiver Elemente zu erklären.

Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Frauen wie Lise Meitner Sonderfälle in der Forschung. Wissenschaft und Technologie wurden im 19. Jahrhundert zu Instrumenten der weissen, bürgerlichen Männer. Ihre Machtposition war hier doppelt gefestigt. Sie schlossen andere Gruppen als Akteure innerhalb der Wissenschaften aus. Dies betraf die Frauen, die Arbeiter oder andere Ethnien. Ihnen allen wurde es quasi verunmöglicht, als Subjekte der Wissenschaft eigene Erkenntnisse und Überzeugungen herauszubilden. Vielmehr wurden sie als Objekte der Wissenschaft analysiert und als Objekte der daraus resultierenden Politik manipuliert. Beispielhaft zeigt sich dies bei den Frauen: Sie wurden zunehmend als Subjekte aus dem Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt und dafür als Objekte von wissenschaftlichen Untersuchungen und Praktiken durchdrungen.

Dies führte beispielweise dazu, dass es zu einer wissenschaftlich-medizinischen Erfassung der „ur-weiblichen“ Bereiche Schwangerschaft und Geburt kam, aber dass die Frauen dabei nichts zu sagen hatten. So waren Frauen von der neuen Disziplin „Geburtshilfe“ ausgeschlossen.

Lise Meitner ist somit quasi die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Aber auch sie hatte mit Widerständen zu kämpfen. Obwohl sie schon 1918 die Leitung der radiophysikalischen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut übernommen hatte, konnte sie erst in der Weimarer Republik habilitieren. Frauen war zuvor eine Karriere in der Hochschullehre untersagt. Im Jahre 1933 entzogen ihr die Nationalsozialisten aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefähigung wieder und schliesslich musste sie als Betroffene der Nürnberger Rassengesetze 1938 auswandern. Trotz zahlreicher Verdienste und unzähliger Nominationen blieb Lise Meitner ein Nobelpreis versagt.

Lise Meitner und Otto Hahn in der Berliner Universität um 1909.  

Rassenkunde im „Dritten Reich“

Schautafel „Bilder deutscher Rassen 1“, Deutschland um 1935.  

Im 19. Jahrhundert verdrängten die Wissenschaften zunehmend die Religionen als Quelle von Wahrheit und Sinnstiftung. Zugleich erwuchsen aus dem Glauben an die Wissenschaft Ersatzideologien, quasi neue säkulare Religionen. Dieser Prozess hing ganz wesentlich mit einer neuen naturwissenschaftlichen Theorie zusammen: Charles Darwins Evolutionstheorie, welche davon ausgeht, dass nur jene Tierarten überleben würden, die am besten an ihre Umwelt angepasst seien. Diese „natürliche Auslese“ bewirkt gemäss Darwin über Generationen hinweg eine laufende Veränderung der Arten. Die Evolutionstheorie wurde schon bald pseudowissenschaftlich weiterentwickelt und auf die Menschen übertragen. Diese sogenannten sozialdarwinistischen Lehren gingen davon aus, dass sich die Menschheit in unterschiedliche Rassen unterteilen liesse, die gegeneinander in einem erbarmungslosen Überlebenskampf stünden.

Ein wesentlicher Grund für den Erfolg von Sozialdarwinismus und Rassismus liegt darin, dass sich diese wissenschaftlicher Verfahren und Darstellungsformen bedienten, die allgemein für hohe Glaubwürdigkeit standen:

Entsprechende Theoretiker analysierten sehr genau den menschlichen Körper, beispielsweise mit Untersuchungen zu Schädelformen, Muskelaufbau, Duftstoffen, Fingerlinienmuster und Blutgruppenforschung. Ihre Überlegungen führten schliesslich zu differenzierten Systemen, in welchen Sie unterschiedliche Typen von Menschen konstruierten.

Die abgebildete Schautafel „Bilder deutscher Rassen 1“ um 1935 teilt die „deutsche Rasse“ in der Tradition populärwissenschaftlicher Veranschaulichungen in drei Gruppen auf – die „nordische“, die „fälische“ und die „westliche Rasse“. Dabei werden typische „Rassen-Merkmale“ bei Frauen und Männern genannt. Die Merkmale beziehen sich auf den Körperbau, die Kopfform, den Haarschopf sowie Haar-, Haut- und Augenfarbe. Solche Schautafeln für den „rassentheoretischen Unterricht“ sollten Schülern die von Staat und Partei gewünschten Grundlagen in „Rassenkunde“ vermitteln.

Eugenik im „Dritten Reich“

Besonders schwerwiegende Folgen zeitigte die sozialdarwinistische Ideologie vom Überlebenskampf zwischen den Menschenrassen im nationalsozialistischen Deutschland: Die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre liessen die öffentlichen Wohlfahrtsaufgaben ansteigen: Der Druck auf die eigene Bevölkerung, insbesondere auf Hilfsbedürftige und Minderheiten, stieg. Leistungsfähigkeit, Integrationswilligkeit und schliesslich Zeugungs- und Lebenswürdigkeit wurden öffentlich diskutiert und entsprechende politische Massnahmen wurden umgesetzt. So wurden Bevölkerungsgruppen, welche die deutsche Nation angeblich in ihrem Überlebenskampf schwächten, isoliert, zwangssterilisiert und im Fall der Juden sogar systematisch ermordet.
Die vorliegende Schautafel zu den Nürnberger Gesetzen war ein Instrument im eugenischen Streben nach einem gesunden und widerstandsfähigen „Volkskörper“. Die Gesetze regelten das Verhältnis zwischen „Ariern“ und „Nichtariern“, indem sie den jüdischen Bürgern wichtige Rechte absprachen. Aus der Schautafel wird ersichtlich, dass die Bürger in Kategorien eingeteilt wurden. Wer von mindestens drei jüdischen Grosseltern abstammte, galt als „Volljude“. Alle mit einem oder zwei jüdischen Grosselternteilen, solche, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder die mit einem Volljuden verheiratet waren, galten als Mischlinge. Die Eheschliessung und der Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden wurden verboten.  
Schautafel zu den Nürnberger Gesetzen, Deutschland 1935.  

Überdurchschnittliche Fortpflanzung der „Minderwertigen“

Abbildung aus dem Heft „Jung-Schweizer! Jung-Schweizerinnen! Das Schicksal des Vaterlandes ruht in Euch“, 1939/1940.  

Die vorliegenden Abbildungen stellen zwei unterschiedliche Familien dar. Die obere, kinderreiche Familie gibt ein tristes Bild in trostloser Umgebung ab: Gedrungene Gestalten mit fratzenähnlichen Gesichtern stehen schlecht gekleidet auf einer Strasse, zwei Knaben prügeln sich, einer streckt in unbekannte Richtung die Zunge raus. Ganz anders sieht es unten aus: Eine vitale bürgerliche Kleinfamilie spaziert durch die Natur, adrett gekleidet, in offensichtlich liebevoller Verbundenheit.

Die Darstellungen illustrieren die Botschaft, dass es statistisch erwiesen sei, dass sich die angeblich „Minderwertigen“ stärker fortpflanzen würden als der „Durchschnitt“. Darüber hinaus wird vor der Gefahr gewarnt, welche die starke Vermehrung des „Bodensatzes“ für das „Volk“ bedeute.

Dass eine Seite eines Heftes, das sich kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges an Schweizer Jugendliche richtete, in dieser Weise gestaltet wurde, ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich:

Einerseits zeigt es, dass die eugenische Sorge um die Gesundheit des „Volkskörpers“ offensichtlich weit verbreitet war und auf die künftigen Entscheidungsträger übertragen wurde. Andererseits wird aus der Argumentation die Autorität offensichtlich, die wissenschaftliche Verfahren in jener Zeit besassen. Dass das Schweizer „Volke“ bedroht sei, wird hier wegen der „statistischen Erhebungen“ zur Gewissheit – und aufgrund der visuellen Wirkmacht der Bilder. So stärken letztere die Selbstverständlichkeit, mit der in der Argumentation zwischen „Minderwertigen“ und dem „Durchschnitt“ unterschieden wird: Natürlich ist es in der Realität nicht so einfach wie auf den Bildern, zwischen „normal“ und „minderwertig“ zu unterscheiden. Ja vielmehr ist jede Unterscheidung im realen Leben an einen höchst normativen Standpunkt gebunden. Als wertvoll und gesund sollten für die Schweizer Jugend offensichtlich folgende bürgerliche Verhaltensweisen gelten: Sich züchtig ankleiden, kontrolliert in der Natur spazieren gehen, als Knabe das Mädchen an der Hand führen.

„Selbstbehauptung“ dank „gesunder Familien“

Auf die Darstellung von den „minderwertigen“ und den „gesunden“ Familien folgen im Heft „Jung-Schweizer! Jung-Schweizerinnen! Das Schicksal des Vaterlandes ruht in Euch“ Abbildungen, die zeigen sollen, wie die Jugend dereinst das Volk zum „Blühen und Gedeihen“ bringen solle. Die Aussage von Bild und Text: Nur eine „geistig wie körperlich hochwertige Jugend“ könne „die wirtschaftliche und militärische Selbstbehauptung“ der Nation gewährleisten. Dieser Botschaft liegt letztlich – in einer abgeschwächten, defensiven Variante – dieselbe sozialdarwinistische Logik zugrunde, welche das nationalsozialistische Deutschland antrieb.

 

Das eigene Volk befindet sich im Überlebenskampf gegen andere Nationen. Es muss sich gegen aussen behaupten.

Etwas fällt bei der dargestellten „Selbstbehauptung“ „unseres Volkes“ auf: Verantwortlich für dessen „Blühen und Gedeihen“ sind vornehmlich die Männer. Sie sind es, die bauen, aussäen, forschen, rechnen und Kanonen ziehen. Die einzige dargestellte Frau kümmert sich um ein Kleinkind. Der Fortbestand der eigenen Nation scheint jenseits einer bürgerlichen Geschlechterordnung nicht denkbar gewesen zu sein.

 

 

Abbildung aus dem Heft „Jung-Schweizer! Jung-Schweizerinnen! Das Schicksal des Vaterlandes ruht in Euch“, 1939/1940.

Das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft

Abstimmungsplakat der Evangelischen Volkspartei (EVP), 2015.
Abstimmungsplakat der Evangelischen Volkspartei (EVP), 2016.  

Am 14. Juni 2015 haben die Schweizer Stimmberechtigten über die „Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich“ abgestimmt. Die Verfassungsänderung wurde mit 61.9% Ja-Stimmen gegen 38.1% Nein-Stimmen angenommen. Seither gilt, dass durch künstliche Befruchtung erzeugte Embryonen unter strengen Voraussetzungen genetisch untersucht werden dürfen (Präimplantationsdiagnostik, PID). Es folgte am 5. Juni 2016 eine Abstimmung über die Änderung des Bundesgesetztes über die medizinisch unterstütze Fortpflanzung (FMedG). Mit dem Gesetz sollte festlegt werden, unter welchen Voraussetzungen die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung beim Menschen angewendet werden dürfen. Die Gesetzesänderung wurde mit 62.4% Ja-Stimmen angenommen.

Die Befürworter der beiden Vorlagen sahen einen Vorteil darin, dass schwere Erbkrankheiten nach der Verfassungs- respektive Gesetzesänderungen schon vor der Schwangerschaft festgestellt werden könnten. Gegen die Vorlagen positionierte sich die Evangelische Volkspartei (EVP). Auf ihrem Abstimmungsplakat zur PID-Abstimmung ist ein Foto eines Mädchens mit Down Syndrom abgebildet, welches zerrissen wird. Damit wollte die EVP die Angst vor einer Eliminierung von Behinderten aus der Gesellschaft evozieren.

Auf ihrem Abstimmungsplakat zur FMedG-Abstimmung ist derweil ein Baby als Maiskolben dargestellt. Die Gegner des Gesetzes brachten damit ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass Menschen, ähnlich wie Nutzpflanzen, normiert und optimiert werden könnten. Die Evangelische Volkspartei (EVP) zitierte im Kontext der PID-Abstimmung auf ihrer Website unter dem Titel „eugenische Tendenz“ den Ständerat Werner Luginbühl mit den Worten: „Wie lange wird es wohl dauern, bis es ein schönes und intelligentes Kind sein muss, wenn heute schon der Anspruch auf ein gesundes Kind verbreitet ist?“ (Luginbühl, o.J.). Die EVP befürchtete für die Zukunft eine „Selektionsmentalität mit eugenischem Optimierungswahn“ – und stellte damit implizit eine Verbindung her zu den eugenisch imprägnierten Praktiken der Zwischenkriegszeit. So hatte sich beispielsweise die Schweizer Armenpfleger-Konferenz in den 1920er Jahren mit der Eugenik beschäftigt und den Fragen, wie der Anteil positiv bewerteter Erbanlagen in der Bevölkerung vergrössert (positive Eugenik) respektive jener der negativ bewerteten Erbanlagen verringert (negative Eugenik) werden könne. Der eugenische Diskurs produzierte damals innerhalb der Bevölkerung einen Normierungsdruck, von dem insbesondere Menschen am Rande der Gesellschaft bedroht waren. 

Es wurden beispielsweise Stimmen laut, die forderten, dass sogenannt „psychopathische“ Menschen an der Fortpflanzung gehindert werden sollten. Die Armenpfleger-Konferenz der Schweiz diskutierte die Frage, in welchen Fällen eine Sterilisation sinnvoll wäre.

Die Wissenschaftsskepsis, die in der Argumentation der EVP zum Ausdruck kommt, ist nicht zuletzt ein Produkt der dramatischen Vorgänge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Zerstörungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg reichten weit über das bis dahin Vorstellbare hinaus. Die unmenschlichen Praktiken führten zu einer Entzauberung des Fortschrittparadigmas und somit auch der Wissenschaften: Wissenschaftliche Methoden, technologische Innovationen und vor allem pseudowissenschaftliche Überzeugungen bewirkten nicht automatisch Gutes. Vielmehr hatten sie sich als Verwaltungstechniken gegen soziale Aussenseiter, als Waffen gegen Soldaten, aber auch Zivilisten und als exklusive Weltanschauungen gegen ganze Bevölkerungsgruppen gerichtet. Die Argumente der EVP zeigen einen sehr kritischen Blick auf die Zukunft der Wissenschaft respektive auf deren gesellschaftliche Implikationen. Die Resultate der Abstimmungen legen derweil nahe, dass die Mehrheit der Bevölkerung an die Wissenschaft und an einen daraus erfolgenden Fortschritt zu glauben scheint.

Gentechnik: Hoffnungen und Ängste

Ausschnitt aus der Sendung „Antenne“ des Schweizer Fernsehens, 1974.  

Im Jahre 1974 fand im Kongresshaus Davos das Internationale Symposium zur Genforschung statt. Im Film des Schweizer Fernsehens werden Fragen von Passanten mit Aussagen der Wissenschaftler abgeglichen. Dabei wird deutlich, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem menschlichen Erbgut bereits über vierzig Jahre vor den jüngsten Abstimmungen zur Präimplantationsdiagnostik und Fortpflanzungsmedizin unterschiedlich beurteilt wurden. Einige Fragen zeigen, wie gross die Hoffnungen waren, welche mit neuen Technologien einhergingen. So wollen Passanten wissen, ob mit der Gentechnik Krankheiten wie Krebs heilbar wären. Der Experte verneint die Frage mit dem Verweis auf den aktuellen Forschungsstand. Die Gentechnik ziele in erster Linie darauf ab, Erbkrankheiten zu bekämpfen und zu behandeln. Andere Passanten zeigen sich weniger wissenschaftsgläubig und stellen sehr kritische Fragen bezüglich der Entwicklung der Gentechnik.

Dabei wird deren ethische Vertretbarkeit angezweifelt respektive es wird vor Missbrauch gewarnt. Der Experte relativiert mit dem Hinweis, dass es immer noch in menschlichem Ermessen liege, welche Forschung an den Genen nun durchgeführt würde und welche nicht.

Die Haltungen der Passanten sind nicht zuletzt ein Produkt ihrer jüngeren Vergangenheit: Im Zuge des wirtschaftlichen Booms der 1950er und 1960er Jahre kam die im Zweiten Weltkrieg verloren gegangene Fortschrittsgläubigkeit zurück. Alles schien dank der Wissenschaft und der Technik möglich, planbar und vor allem erreichbar zu sein. Mit der 68er-Generation erklangen jedoch erneut kritische Stimmen: Mit der Konsum- und Ideologiekritik dieser Generation ging auch Skepsis gegenüber den Wissenschaften einher.

Die Pathologisierung von Armutsursachen

Im frühen 20. Jahrhundert setzte im Kontext der Sozialen Arbeit ein intensiver Prozess der Verwissenschaftlichung ein. So forderte beispielsweise die Schweizerische Armenpflegerkonferenz, dass der Umgang mit den Armen auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden sollte. Die Soziale Arbeit war zu diesem Zeitpunkt aber noch keine eigenständige Wissenschaft, sondern wurde von anderen Wissenschaften beeinflusst. Entsprechend orientierte sich auch die Armenpflegerkonferenz an anderen Disziplinen – insbesondere an der Psychiatrie. Die zu Rate gezogenen Psychiater identifizierten die „Erbanlagen“ der Menschen als primäre Ursache für deren soziale Situation.

Der sogenannte „Psychopath“ wurde zur zentralen neuen Kategorie einer Sozialen Arbeit, in die grundsätzlich immer mehr psychiatrische Konzepte einflossen.

Den skizzierten Wandel reflektierte (und begrüsste) Robert Weber im Jahr 1925 im Rahmen eines Referats, das er an der Armenpflegerkonferenz hielt. Weber amtete damals als 3. Armensekretär. Zudem war er als Psychiater tätig. In seinem Vortrag versuchte er darzulegen, was ein Psychopath respektive eine fürsorgebedürftige Person überhaupt sei. Nachfolgend ein Auszug aus seiner Rede:

 

[…]
[…]
Robert Weber über die „Psychopathenfürsorge“ anlässlich der Armenpflegerkonferenz von 1925.  
Webers Ausführungen zum zeitgenössischen Sprechen über gesellschaftliche Aussenseiter zeigen: Letztere wurden immer weniger über ihre konkreten, sozial unerwünschten Handlungen definiert, sondern vielmehr über eine angenommene psychische Disposition, auf welche diese Handlungen zurückgeführt wurden. So sei die Ursache des Psychopathen in dessen „Seele“ zu finden. Genau genommen seien in der Seele des Menschen gute und böse Triebe vorhanden. Das Überwiegen der guten oder der bösen Triebe würden demnach das Wesen des Menschen bestimmen. Diese Überzeugung führte auch in der Sozialen Arbeit zu einer neuen Herangehensweise: Anstatt dass die Rahmenbedingungen des Sozialfalles analysiert worden wären, richtete sich die Aufmerksamkeit nun auf das Innerste des Menschen, auf seine Triebe. Weber definiert spannenderweise auch, was einen Menschen „mit mehrheitlich guten Trieben“ auszeichnete: Er sei „charaktervoll, sittlich stark, denn er tut nichts, das der Bestimmung des Menschengeschlechtes zuwiderläuft“. Das „Gute“ wird auf diese Weise biologisiert. Nach diesem Verständnis ist von der Natur her vorgegeben, was gut ist.  
Das (von Weber auffällig bürgerlich definierte) Gute ist keine gesellschaftliche Konstruktion mehr, es ist nicht eine Frage des Standpunktes. Nein: Das Gute ist natürlich gegeben. Pointiert zusammengefasst: Mit dem Einzug psychiatrischer Konzepte und Begrifflichkeiten in die Soziale Arbeit wurden die Auswirkungen gesellschaftlicher Mechanismen der Marginalisierung und des Ausschlusses sowie bürgerliche Ordnungsvorstellungen zunehmend biologisiert. Sperrig ist derweil bei Webers Begriffsanalyse seine eigene Terminologie. So überrascht es aus heutiger Sicht, dass der Psychiater nicht von der „Psyche“, sondern von der „Seele“ spricht. Zeigt sich hier, dass bei bei aller Biologisierung, noch immer auch christliche Konzepte auf die Psychiatrie und dadurch indirekt auf die Soziale Arbeit einwirkten? Des Weiteren präsentierte Weber an der Konferenz Lebensgeschichten verschiedener seiner Patienten, um das Wesen von „Psychopathen“ zu verdeutlichen. Ein Beispiel sei nachfolgend aufgeführt.
Robert Weber über die „Psychopathenfürsorge“ anlässlich der Armenpflegerkonferenz von 1925.  

Die Erzählung handelt von einem jungen Mann, welcher trotz vieler Anläufe in seinem kurzen Leben keinen beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg erzielen konnte. Sie endete mit seinem Tod, dessen Ursache ungeklärt blieb.

Webers Pointe aus der geschilderten und einiger analogen Biographien: Die „Psychopathen“ seien nicht selbst schuld für ihr Verhalten. Dieses werde durch ihre bösen Triebe ausgelöst. Sozial unerwünschtes Verhalten und gesellschaftliche Randstellungen sind damit endgültig pathologisiert. Konsequenterweise spricht sich Weber dafür aus, dass den „Kranken“ geholfen würde, ohne dass ihnen Vorwürfe gemacht würden:

Robert Weber über die „Psychopathenfürsorge“ anlässlich der Armenpflegerkonferenz von 1925.  

Ein anderer Referent bei den Armenpflegerkonferenzen war der Psychiater Moritz Tramer. In den frühen 1920er Jahren war er eine gewichtige Kraft im Feld der Armenfürsorge. Neben seiner Tätigkeit als Psychiater erfüllte er viele weitere Funktionen. Beispielweise hatte er Lehraufträge am Heilpädagogischen Seminar in Zürich. Tramer wurde hoch geschätzt. So lobte ihn Robert Weber mit den Worten, dass die Zürcher Fürsorge die Tätigkeit des Psychiaters sehr schätze. Er leiste „unschätzbare Dienste“, welche es ermöglicht hätten, „neue Anhaltspunkte für die zweckmässige Behandlung“ zu finden. Das Zitat verdeutlicht den Austausch zwischen den verschiedenen für die Soziale Arbeit relevanten Psychiater und es zeigt, wie ihr Wissen synergetisch in die Verwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit einfloss.

Tramer seinerseits argumentierte, dass Fürsorger und Fürsorgerinnen über ein gewisses Mass an psychiatrischem Grundwissen verfügen müssten, damit sie überhaupt kompetent arbeiten könnten. Dabei bezeichnete er die Kompetenz, einen Menschen mit abnormaler Psyche klassifizieren zu können als fundamental. Weiter forderte Tramer, dass Armenpfleger regelmässig mit Psychiatern arbeiteten, insbesondere bei besonders schweren Fällen.

1923 referierte Tramer anlässlich der Armenpflegerkonferenz über die Ursachen von psychisch Kranken. Folgend ist ein Ausschnitt aufgeführt:

 

Moritz Tramer darüber, „was der Armenfleger von Psychologie wissen soll“, anlässlich der Armenpflegerkonferenz von 1923.  

Auch in Tramers Ausführungen zeigt sich der Trend zur Biologisierung der Ursachen von „Abnormalität“. Besondere Überzeugungskraft erhält die neue Sichtweise durch eine entsprechende Metaphorik. Geschickt vergleicht der Psychiater Tramer die (Erb-)Anlagen des Menschen mit jenen in einem pflanzlichen Keimling. Wie im Samen der Pflanze ist im Genpool des Menschen schon ein ganzes (Entwicklungs-)Programm angelegt. Aber dieses gibt nicht alles vor: Wie Erde, Licht und Luft auf die Pflanze einwirkten, so beeinflussten auch externe Krankheiten, Erziehung, Schule und weiteres den Werdegang des Menschen. Tramer berücksichtigt also bei aller Biologisierung immer auch noch Umwelteinflüsse.

Dabei fällt aber auch bei Tramer auf: Was von Natur her „gesund“, und was „krank“ ist, darüber scheinen keine Zweifel bestanden zu haben. Der „abnormale“ Mensch wird entweder durch sein „Erbgut“ oder durch Umwelteinflüsse in die „Abnormalität“ getrieben. Dass er sich aus freien Stücken gegen einen bürgerlichen Lebensstil entscheiden könnte, scheint undenkbar gewesen zu sein.

Die der oben geschilderten Überzeugung zugrunde liegende Biologisierung bürgerlicher Ordnungsvorstellungen zeigte sich erneut 1932 bei der Armenpflegerkonferenz. Hier sprach Doktor Schiller, Direktor des kantonalen Asyls in Wil. Ebenfalls Psychiater von Beruf schilderte er die Vorzüge der Arbeitstherapie. Diese wurde im kantonalen Asyl in Wil umgesetzt und verdeutlicht implizit, welchen Einfluss die Psychiatrie auf die soziale Arbeit hatte. Schiller legitimiert die in seinem Asyl praktizierte Arbeitstherapie mit dem natürlich gegebenen „Trieb zur Arbeit“ des Menschen. Das bürgerliche Arbeitsethos wurde in der Erbanlage des Menschen verankert. Einen „Geisteskranken“ zu therapieren, bedeutete entsprechend, ihn zu einer produktiven und für die Gesellschaft wertvollen Arbeitskraft zu erziehen. Seiner Argumentation verleiht Schiller aber auch durch ein historisches Argument Gewicht: Bereits die „Araber“ in Spanien hätten die Arbeitstherapie praktiziert.

 

Dr. H. Schiller über die Arbeitstherapie im kantonalen Asyl Wil anlässlich der Armenpflegerkonferenz des Kantons St. Gallen 1932.

Ebenso erzählte Schiller ganz konkret, wie die Arbeitstherapie im Asyl umgesetzt wurde:

 

Dr. H. Schiller über die Arbeitstherapie im kantonalen Asyl Wil anlässlich der Armenpflegerkonferenz des Kantons St. Gallen 1932.
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Quellenverzeichnis

Der Neue Glaube
Abbildung aus: Grohmann, M., Jäger, W. (Hrsg.) (2001). Revolution und Moderne um 1900: der Prozess der Industrialisierung und die Herausforderungen der Gesellschaft. Serie „Kurshefte Geschichte“. Berlin: Cornelsen, S. 54.

Weibliche Exotin in der Wissenschaft
Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin Dahlem.

Rassenkunde im „Dritten Reich“
© Deutsches Historisches Museum. Inv.-Nr.: Do2 93/437. Online unter: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/wissenschaft-und-forschung.html (10.03.2018).

Eugenik im „Dritten Reich“
© Deutsches Historisches Museum. Inv.-Nr.: DG 90/6011. Online unter: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/nuernberger-gesetze-1935.html (07.08.2018).

Überdurchschnittliche Fortpflanzung der „Minderwertigen“
Hoffmann F. (1940). Überdurchschnittliche Fortpflanzung der Minderwertigen. In Schmid, W. Jung-Schweizer! Jung-Schweizerinnen! Das Schicksal des Vaterlandes ruht in Euch. Erlenbach Zürich: Rotapfel Verlag. (S. 51)

„Selbstbehauptung“ dank „gesunder Familien“
Hoffmann F. (1940). Landesverteidigung. In Schmid, W. Jung-Schweizer! Jung-Schweizerinnen! Das Schicksal des Vaterlandes ruht in Euch. Erlenbach Zürich: Rotapfel Verlag. (S. 53)

Das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft
© EVP Schweiz. Online unter: https://www.evppev.ch/abstimmungen/abstimmungen/archiv/fortpflanzungsmedizin (22.02.2018).

Gentechnik: Hoffnungen und Ängste
Antenne vom 18.10.1974. Die Gentechnik. Möglichkeiten und Grenzen der Genmanipulation. © Schweizer Radio und Fernsehen.

Die Pathologisierung von Armutsursachen
Weber, R. (1925). Psychopathenfürsorge. In Der Armenpfleger. 22. Jg., S. 91 – 109.

Tramer, M. (1923). Was der Armenfleger von Psychologie wissen soll. In Der Armenpfleger. 20. Jg., S. 2 – 10.

Schiller, H. (1932). Die Arbeitstherapie im kantonalen Asyl Wil. Vortrag gehalten an der Konferenz der Armenpfleger des Kantons St. Gallen am 4. Oktober 1932 in der Kirche des kantonalen Asyls. In Der Armenpfleger. 29. Jg., S.119 – 128.

Sammelbibliographie

Goschler, C. (2009). Die Revolution der Wissenschaften. In Wirsching A. (Hrsg.). Oldenbourg Geschichte Lehrbuch (S. 75 – 88). Neueste Zeit. 2. Aufl. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag.

Kaiser, M. (2019). Die ausgebliebene Revolution. Das Wissen an der Ostschweizerischen Schule für Sozialarbeit. In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 185 – 205). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St. Gallen.

Lengwiler, M. (2002). Expertise als Vertrauenstechnologie. Wissenschaft, Politik und die Konstitution der Sozialversicherungen (1880 – 1914). In Gilomen H.-J. (u. a.) (Hrsg.). Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (S. 259 – 270). Zürich: Chronos.

Matter, S. (2011). Der Armut auf den Leib rücken: Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900-1960). Zürich: Chronos.

Raphael, L. (1996). Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In Geschichte und Gesellschaft 22, Nr. 2 (S. 165-193).

Die Autoren

Simon Keller Silvio Mittner Oliver Qasem

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