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Die 68er-Bewegung

Vertiefung: Auswirkungen auf die Soziale Arbeit

Die 68er-Bewegung ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von oftmals studentischen Bewegungen. Trotz unterschiedlicher Gesellschaftskonzepte, konkreter Kämpfe und Erscheinungsformen gab es zwischen den einzelnen Bewegungen auch Verbindendes: die Kritik an vorherrschenden Wertvorstellungen und etablierten gesellschaftliche Strukturen sowie die Forderung nach grösseren individuellen Freiräumen und mehr politischer und gesellschaftlicher Mitbestimmung.

Auch St. Gallen erlebte seine „68er“. Hier breitete sich die Bewegung im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen jedoch langsamer und zeitlich versetzt aus. Zudem ereigneten sich verhältnismässig wenige Protestaktionen und keine Gewalt. Der Einfluss der 68er-Bewegung war weitreichend – bis hinein in die Soziale Arbeit. Sie fokussierte in der Folge nicht mehr so stark auf die Einzelfallhilfe, sondern suchte Erklärungen für Probleme vermehrt in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. In der Ostschweiz wurde dieser Paradigmenwechsel vom „problematischen Individuum“ hin zur „kranken Gesellschaft“ bezeichnenderweise von Studierenden angedacht.

Jugend-Revolte in der Schweiz: Der „Globuskrawall“

Film zum „Globuskrawall“ von 1968, produziert von Jürg Hassler, SF mySchool, 2003.  
Der Film zeigt Szenen des „Globuskrawalls“ vom 29. Juni 1968 in Zürich. Der Krawall war die Initialzündung der 68er-Bewegung in der Schweiz und stand in direktem Zusammenhang mit den Jugendunruhen in ganz Europa. Zum „Globuskrawall“ kam es, weil Zürcher Jugendliche mitten in der Stadt ein autonomes Jugendzentrum forderten – genauer gesagt, in einem Gebäude, das als Provisorium für das Warenhaus „Globus“ errichtet worden war und heute von einer „Coop“-Filiale genutzt wird. Als die Jugendlichen und jungen Erwachsenen am 29. Juni für ihr Anliegen demonstrierten, eskalierte die Situation: In der Nacht auf den 30. Juni lieferten sich die Demonstranten Strassenschlachten mit den Gesetzeshütern. Die Polizei ging aggressiv mit Wasserwerfern, Knüppeln und Fäusten auf die Menschenmassen los. Als Antwort darauf warfen die Demonstranten mit Ziegel- und Pflastersteinen, Flaschen oder anderen Gegenständen nach den Polizisten.
Im Film kommen damalige Protagonisten und Zeugen zu Wort. So sprechen ein Student, ein damaliger Zugführer der Stadtpolizei, ein Reporter von damals sowie der ehemalige Aktivist und spätere Forscher der Studentenbewegung, Rudolf Bautz. Bautz erläutert die Gründe für die Jugendunruhen. Dabei nimmt er unter anderem Bezug auf den Vietnamkrieg, dessen Bilder die junge Generation bewegt und zum Aktivismus mobilisiert hätten. Laut Bautz herrschte in den 1960ern eine sehr geschlossene Gesellschaft vor. Dies zeigt er am Beispiel des Konkubinatsverbots auf. Als unverheiratete erwachsene Person musste man stets damit rechnen, dass die Polizei auftauchte und mittels der „Zahnbürsteli-Kontrolle“ überprüfte, ob sich im Bad nicht eine zweite Zahnbürste befand. Diese wäre als Indiz dafür gedeutet worden, dass hier ein Paar verbotenerweise im Konkubinat zusammenlebte.
Bautz erwähnt zudem das Verbot, die Grün- und Rasenflächen in der Stadt Zürich oder am Zürichsee zu betreten. Diese Einschränkung habe bei den damaligen Jugendlichen für Unmut gesorgt. Dass uns Jürg Hassler in seinem Film mit Rudolf Bautz einen ehemaligen Aktivisten und späteren Erforscher der 68er-Bewegung als Experten präsentiert, ist interessant, aber keine Besonderheit: Viele Exponenten der Bewegung machten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten auf den „langen Marsch durch die Institutionen“ und prägten diese, nachdem sie sie zuvor kritisiert hatten, von innen heraus. Auch in den Wissenschaften engagierten sich (und engagieren sich noch immer) viele ehemalige „Bewegte“ und prägen mit ihren Deutungen die heutige Sichtweise auf die damaligen Vorkommnisse.

Die Demonstranten: Gleiche Ziele, unterschiedliche Hintergründe

Strassenumfrage aus der Sendung „Rundschau“ des Schweizer Fernsehens, 10.7.1968.  
Der vorliegende Film zeigt einen Zusammenschnitt von Interviews mit Teilnehmern der Kundgebung, die später als „Globuskrawall“ bekannt wurde. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen schildern ihre Erlebnisse dem Fernseh-Journalisten Werner Vetterli. Vetterli, der von 1991 bis 1999 als Mitglied der SVP dem Nationalrat angehörte, stellt kritische Fragen bezüglich den Intentionen und Erfahrungen der Demonstranten mit der Polizei, aber auch deren Freizeitgestaltung und politischer Einstellung. Es wird gezeigt, was die aktivistischen jungen Menschen damals bewegt hat; man wollte mehr Autonomie, weniger Vorschriften und eine Verringerung der gesellschaftlichen Unterschiede. So zum Beispiel der 18-jährige Christian: „Wir brauchen ein Jugendzentrum, und zwar ein autonomes, in den anderen Jugendzentren gibt es mehr Vorschriften als Jugendliche.“ Was dieser Film jedoch nicht zeigt, sind die Meinungen der Gegenseite, der Polizisten.  
Der Zusammenschnitt zeigt wesentliche Merkmale der 68er-Bewegung. Alle interviewten Personen sind relativ jung und sie teilen die übergeordneten Ziele einer grösseren individuellen Autonomie und einer verstärkten Demokratisierung der Gesellschaft. Es zeigen sich jedoch auch Unterschiede bezüglich ideologischer und gesellschaftlicher Hintergründe. Während der 18-jährige Christian beispielsweise Mao Tse-Tung als Vorbild nennt, gerne politische Texte liest und kein klares Berufsziel hat, ist der 32-jährige Buchhalter Jean-Pierre mehr zufällig bei der Demonstration dabei und für ihn ist klar: Er möchte gerne Abteilungsleiter werden – ein Berufswunsch, der einem doch sehr bürgerlich-traditionellen Karrierekonzept entspringt. Der Ausschnitt zeigt also, dass bei den Demonstrationen nicht nur linke studentische Revoluzzer dabei waren, mit welchen die 68er-Bewegung heute gerne assoziiert wird. Vielmehr beteiligten sich junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die einfach ein Unbehagen gegenüber gesellschaftlichen und politischen Strukturen teilten.

Öffentliche Verteidigung der Demonstranten

Titelblatt und Ausschnitte der Verteidigungsschrift zugunsten der angeklagten „Globuskrawall“-Demonstranten der „Autonomen Arbeitsgruppe Kultur und Information“, Zürich, 1970.  
Der abgebildete Textausschnitt stammt aus der zweiten Nummer der sogenannten „Schriften zur Agitation“. Die Ausgabe ist mit „Verteidigung der Demonstranten“ betitelt und zielte darauf ab, jene jungen Männer in der Öffentlichkeit zu verteidigen, die aufgrund ihrer Teilhabe am „Globuskrawall“ gerichtlich angeklagt worden waren. Im Heft werden zunächst die Geschehnisse rund um den „Globuskrawall“ rekapituliert. Danach ist die Anklage gegen vier Demonstranten abgedruckt, gefolgt von den Plädoyernotizen des Rechtsanwaltes F. Schumacher, zu welchen auch die abgebildete Seite gehört. Der Verteidiger der Demonstranten kritisiert unter anderem die Vorgehensweise der Polizei, was auf der abgebildeten Seite ersichtlich wird. Er stellt den Gewalteinsatz der Polizeibeamten als ungerechtfertigt dar und belegt dies mit der Aussage des Adjunkten Fuchs, der beim Einsatz eine Führungsfunktion innehatte. Anwalt Schumacher zitiert Fuchs wie folgt:
„[…] Ich habe auch festgestellt, dass Arrestanten auf dem Treppenbeginn zusätzlich Schläge bekamen, und zwar, wie ich vermutete, von Polizisten, welche aus dem Keller nach oben zurückkehrten.“ Im zweiten Abschnitt unterstellt Anwalt Schumacher den Behörden gar, die Eskalation rund um den „Globuskrawall“ bewusst herbeigeführt zu haben: „Früher durfte die Jugend auf der Sechseläutenwiese Buden aufstellen und für ein Jugendhaus sammeln. 1968 wurde eine etwas andere Aktion für den gleichen Zweck, die aber ebenfalls harmlos angelegt war [der Aufbau eines satirischen ,Altenheims für die Jugend‘], brutal verhindert.“ Der Plädoyerausschnitt bringt zum Ausdruck, wie sich im Laufe der 1960er Jahre auch in der Schweiz die Gegensätze zwischen der jungen Generation und den bürgerlichen Autoritäten akzentuierten. Die angespannte Stimmung hat die Vorgehensweise der Polizisten während des „Globuskrawalls“ beeinflusst.
Dass Schumacher dies zum Thema macht, ist typisch für die Vertreter der 68er-Bewegung: Während die bürgerlichen und staatlichen Autoritäten den jugendlichen Aktivisten die Verletzung der öffentlichen Ordnung sowie Gewalthandlungen vorwarfen und diese strafrechtlich verfolgten, drehten die „Bewegten“ argumentativ den Spiess um. Verletzung der öffentlichen Ordnung sowie Gewalthandlungen vorwarfen und diese strafrechtlich verfolgten, drehten die „Bewegten“ argumentativ den Spiess um. Wie Anwalt Schumacher stellten sie den Staat und (die sozio-ökonomischen Eliten) als die wahren Urheber einer umfassenden Gewalt dar, welche darauf abzielte, physische und psychische Freiheiten einzuschränken. Doch das Bild einer friedliebenden Bewegung, die sich gegen einen gewaltbereiten Machtapparat stellte, stimmt nur bedingt: Tatsächlich kämpften die meisten „68er“ gewaltlos gegen die bestehenden Strukturen. Ein kleiner Teil entschied sich aber auch für den gewalttätigen Weg.

Mit traditionellen Geschlechterkonzepten gegen das Frauenstimmrecht

Abstimmungsplakat anlässlich der Volksabstimmung zur Einführung des Frauenstimmrechts, 1971.

Links sehen Sie ein Plakat des Aktionskomitees gegen das Frauenstimmrecht, welches 1968 veröffentlicht wurde. Das Jahr 1968 veränderte hierzulande auch die Rahmenbedingungen bezüglich der Diskussion um eine mögliche politische Teilhabe der Frauen: Just in diesem Moment, im internationalen Jahr der Menschenrechte, beschloss die Schweiz, die Europäische Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen – jedoch mit dem Vorbehalt des fehlenden Frauenstimmrechts. Dies brachte das Fass zum Überlaufen: Demonstrationen der neuen Frauenbewegung folgten bis sich 1971 die männliche Stimmbevölkerung dazu entschloss, den Frauen die politischen Mitspracherechte zu gewähren. Im Vorfeld der Abstimmung vom 7. Februar 1971 machte aber nicht nur die Frauenbewegung Werbung für ihre

Überzeugung, sondern auch die Gegenseite. Das Abstimmungsplakat wirbt mit dem bürgerlichen Frauenbild der Nachkriegszeit gegen das Frauenstimmrecht. Oder anders formuliert: Hier markiert eine adrett gekleidete und frisierte Dame, dass Sie sich der angeblich urweiblichen Sphäre von Haus und Familie zugehörig fühle und nicht in das „dreckige Spiel“ öffentlicher Auseinandersetzung hineingezogen werden wolle. Das Plakat darf durchaus als Provokation gegenüber der 68er-Bewegung in ihrer Gesamtheit verstanden werden. So vertraten die 68er wohl unterschiedliche politische Ansichten und verfolgten entsprechend verschiedenartige Ziele. Sie verband jedoch der gemeinsame Widerstand gegen Bestehendes – insbesondere gegen überholte Moralvorstellungen und traditionelle Geschlechterkonzepte.

Beatles‘ Revolution

Der Song „Revolution“ der Beatles von 1968.  
„1968“ war ein gesellschaftliches und politisches Phänomen – aber auch ein popkulturelles: Künstler griffen Themen und Motive der Bewegung auf und gestalteten deren Erscheinungsbild mit. So auch die Beatles mit ihrem Song „Revolution“. Der Song drückt einerseits jenes Bekenntnis zum Wandel aus, das so typisch ist für alle Bewegten jener Zeit: „We all want to change the world.“ Zugleich richtet sich das Lied aber gegen die Radikalen,
welche mit zu extremen Mitteln gegen die Regierung protestieren würden und schlussendlich nicht viel besser seien als die selbigen: „But when you talk about destruction, Don’t you know that you can count me out“. Somit zeigen sich in der Musik der Popstars implizit die Eigenheiten der 68er-Bewegung: die grosse Klammer der Kritik am vorherrschenden System und des Wunsches nach Veränderung, aber auch die Heterogenität einer Bewegung,
die sich weder bezüglich der konkreten Inhalte noch der Vorgehensweise einig war. Dass die Beatles in „Revolution“ mehr oder weniger offen radikal-linke Gruppierungen kritisierten, führte zu unterschiedlichen Reaktionen: Während die Radikalen die Beatles für ihre „bürgerliche Haltung“ attackierten, erfuhren sie von den gemässigten „68ern“ Zuspruch für ihren „pazifistischen Idealismus“.

Eine Chance für die Liebe

Flugblatt von neun Schülerinnen und Schülern der Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen, Januar 1970.
Auch in St. Gallen kam die 68er-Bewegung an, allerdings mit leichter Verspätung. Studierende forderten in Ausbildungsstätten mehr Mitbestimmung. An der Hochschule HSG traten 1969 erstmals Studenten mit marxistischen Parolen in Erscheinung und im Dezember des gleichen Jahres kam es zu einer Anti-Vietnamkrieg-Demo. Im Vergleich zu Zürich blieb es im Osten der Schweiz aber bei vielen Revolten im Kleinen. Zu Gewalt kam es hier nie. Eine exemplarische Revolte im Kleinen war die „Aktion Rotes Herz“ im Jahr 1970. Diese sorgte für nationale Schlagzeilen. Schüler und Schülerinnen der Kantonsschule St. Gallen protestierten damit gegen den Ausschluss eines Schülerpaars, Jeanette und Marcel, aufgrund derer intimen Beziehung. Vorgefallen war Folgendes: Alex, der Ex-Freund von Jeanette, der die gleiche Klasse wie das neue Liebespaar besuchte, belästigte Jeanette und ihre Familie mit anonymen Anrufen, nachdem jene sich in den neuen Mitschüler Marcel verliebt hatte. Die Schulleitung entschied darauf, gegen den Ex-Freund mit einem Ultimatum vorzugehen und das neue Liebespaar von der Schule zu weisen. Dagegen wehrten sich neun MitschülerInnen. Sie gründeten die Aktion „Rotes Herz“, indem sie in einem Flugblatt gegen den Entscheid der Schulleitung namentlich Stellung bezogen. Das Engagement der neun St. Galler SchülerInnen spiegelt einerseits beispielhaft den damaligen Zeitgeist. So richtete es sich gegen die „autoritäre Anmassung“ und die „puritanische Vorgehensweise“ der Schulleitung – sprich typisch für die 68er-Bewegung gegen überholte Moralvorstellungen in Bezug auf Liebe und Partnerschaft. Die Reaktion des Rektors war Ausdruck der bürgerlichen Angst, der „moralisch verwerfliche Geist“ der 68er-Bewegung könne sich auch an der Schule ausbreiten. Als Folge dieser Aktion bildeten sich progressive Schülergruppen in St. Gallen, welche das Gedankengut der 68er verbreiten wollten. Ein beliebtes Mittel wurden sogenannte Teach-ins, also gewaltfreie Zusammenkünfte, meist an Hochschulen, in deren Rahmen politische Diskussionen geführt respektive Missstände thematisiert wurden. Andererseits zeigen Form des Protests und Argumentation des Flugblattes deutlich die gemässigte Stossrichtung der Bewegung in St. Gallen: Die SchülerInnen werden nicht handgreiflich, sondern rufen zum Gespräch und zum Tragen eines Protestknopfes auf. Und sie argumentieren interessanterweise – und eigentlich ziemlich bürgerlich – mit dem Schutz der Privatsphäre. Wenn viele 68er proklamierten, dass gerade das Private politisch sei, so standen die Initianten der „Aktion Rotes Herz“ vielmehr dafür ein, dass die bürgerliche Privatsphäre vor dem Übergriff durch Autoritäten geschützt werden, sprich privat bleiben sollte.

Ein Zeitzeuge erzählt…

Am 2. Februar 2018 führten die PHSG-Studentinnen Stefanie Hardegger und Jana Räbsamen in Zürich ein Interview mit Matthias Federer. Federer war 1970 Mit-Initiant der Aktion „Rotes Herz“ an der Kantonsschule Burggraben in St. Gallen. Im Gespräch blickt Federer zurück auf die Geschehnisse rund um den Schülerinnen- und Schüler-Protest.  

„68er“ in der Ausbildung zur Sozialarbeit

Auszug aus der Diplomarbeit „Berufskrise angehender Sozialarbeiter oder Sozialarbeiter werden ist nicht schwer, Sozialarbeiter sein dagegen sehr.“ der „Ostschweizerischen Schule für Soziale Arbeit“, 1976.  
Die Diplomarbeit, deren Auszug oben zu sehen ist, wurde von St. Galler Studierenden im Jahr 1976 verfasst. Sie diagnostiziert „eine Berufskrise angehender Sozialarbeiter“ und versucht, die Ursachen dieser Krise aufzudecken. Auf den abgebildeten Seiten halten die VerfasserInnen ihre persönlichen Beweggründe zum Studium der Sozialen Arbeit fest. Spannend ist dabei, dass die meisten von ihnen eine kaufmännische Ausbildung hinter sich haben, und zwar nicht, weil diese ihrem eigenen Interesse entsprochen hätte, sondern weil die Eltern und die Gesellschaft sie als sinnvoll einstuften. Diese berufliche Situation habe zu einer immer grösser werdenden Unzufriedenheit der VerfasserInnen geführt, die typisch sei für die grundsätzliche „Desintegration“ des Menschen in einer „Industriegesellschaft“, „welche materielle Werte überbetonte“. Ein „starker Wandel der Werte“ habe in der Folge den Wunsch ausgelöst, „dem Berufsleben wieder mehr Sinn zu verleihen“, wie er auch in weiteren Lebensbereichen der AutorInnen Veränderungen hervorgebracht habe.
Der abgebildete Abschnitt gibt einen exemplarischen Einblick in das Denken und die Lebenssituation vieler junger Menschen der 68er-Generation: Die Diplomanden verharren weder intellektuell noch beruflich in ihrem Schicksal. Argumentativ ziehen sie Verbindungen von ihrer Biographie zu den grossen sozioökonomischen Entwicklungen – und beruflich wollen sie in Bereiche vorstossen, wo sie – zumindest aus ihrer Sicht – zum erhofften gesellschaftlichen Wandel beitragen können. Persönliche und gesamtgesellschaftliche Befreiung werden hier zusammen gedacht. Oder anders formuliert: Die Studierenden wollten mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive strukturell gegen gesellschaftliche Missstände, Systemmängel und individuelle Unzufriedenheit ankämpfen. Der Titel der Diplomarbeit lässt es vermuten: Die jungen Männer und Frauen, welche bewusst den Studiengang der Sozialen Arbeit wählten, um die Gesellschaft mitzugestalten, gerieten mit Dozenten und den vermittelten Inhalten in
Konflikt. Ihr linkes Gedankengut war nicht mit dem Lehrplan kompatibel. Auf die Dauer gesehen führte ihr Engagement aber dazu, dass die Methoden der sozialen Arbeit neu justiert wurden. Man wandte sich von der starken Fokussierung auf die Einzelfallhilfe ab. Bei der Einzelfallhilfe, einer grundlegenden sozialpädagogischen Interventionsform, standen die einzelnen Personen im Fokus, welche Probleme mit der allgemeinen Lebensbewältigung hatten. Sie sollten dank der Einzelfallhilfe wieder zu funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft werden. Die von der 68er-Bewegung geprägte Soziale Arbeit erkannte in dieser Praxis jedoch einen Zwang zur Anpassung an die Gesellschaft. Ja, mehr noch: Sie erkannte die Ursachen der individuellen Probleme in gesamtgesellschaftlichen Missständen und wandte sich konsequenterweise gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu. Typisch für den Ansatz der 68er-Bewegung kritisierte sie die Gesellschaft, welche die sozialen Probleme ermögliche und somit die „Klienten“ erst hervorbringen würde.

Sozialarbeit: Paradoxes Verhältnis zu den „68ern“

Titelbild und Abbildung aus der 16-seitigen Broschüre  „Die Sozialarbeit. Der Sozialarbeiter“ der Schweizer Arbeitsgemeinschaft der Schulen für Soziale Arbeit, 1974.

 

Die 1974 herausgegebene Broschüre der Schweizer Arbeitsgemeinschaft der Schulen für Soziale Arbeit ist mit zahlreichen Illustrationen ausgestattet und gibt einen generellen Überblick darüber, was Sozialarbeit überhaupt ist bzw. was zu den Tätigkeiten eines Sozialarbeiters/einer Sozialarbeiterin zähle. Die Prinzipien, nach welchen sich die Soziale Arbeit richtet, werden verdeutlicht. Dabei fällt auf, wie stark die Anliegen und die Rhetorik der Sozialen Arbeit jenen der 68er-Bewegung gleichen: Antrieb der Sozialarbeit seien die Sorge und das Bemühen um das soziale Wohlbefinden des Menschen. Intakte zwischenmenschliche Beziehungen und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft seien für die Entwicklung und Entfaltung
eines jeden Menschen notwendig. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter setzten sich für eine Gesellschaftsordnung ein, in der jeder Mensch entsprechend seinen Begabungen, Eigenschaften und Fähigkeiten seinen Platz und Anerkennung fände. War die Soziale Arbeit 1974 also bereits von den neuen Konzepten der „68er“ geprägt? Verschiedene Passagen der Broschüre deuten darauf hin, dass die „68er“ zum damaligen Zeitpunkt noch sehr viel mehr als Objekte der Sozialarbeit verstanden wurden, als dass sie diese von innen heraus als Subjekte mitgestaltet hätten. Die „68er“ werden zu eigentlichen Problemfällen erklärt, wenn in der Broschüre die
„heftigste Auflehnung einer Gruppe von Jugendlichen gegen veraltete Gesellschaftsstrukturen“ in eine Reihe mit der „krankhafte[n] Persönlichkeitsentwicklung eines Familienmitgliedes“ und dem „Fehlen eines jeglichen Zusammengehörigkeitsgefühles“ gestellt und für die Störung zwischenmenschlicher Beziehungen verantwortlich gemacht wird. Auch in der oben rechts abgebildeten Zeichnung eines Klienten kommt diese Sichtweise deutlich zum Ausdruck: Die Illustration zeigt nicht irgendeinen „Sozialfall“, sondern den „68er-Problemfall“, dem sich die Sozialarbeit anzunehmen habe. Frisur und vor allem die Bücher weisen ihn als solchen aus.
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Quellenverzeichnis

Jugend-Revolte in der Schweiz: Der «Globuskrawall»
Hassler, J. (2003). Globuskrawall. SF mySchool vom 22.10.2003. © Schweizer Radio und Fernsehen. Online unter: https://www.srf.ch/play/tv/srf-myschool/video/zeitreise-der-globuskrawall-folge-13?id=c0d558da-e48e-477d-ab10-7a4f00847369&station=69e8ac16-4327-4af4-b873-fd5cd6e895a7 (08.01.2018).

Die Demonstranten: Gleiche Ziele, unterschiedliche Hintergründe
SF DRS Rundschau vom 10.07.1968. © Schweizer Radio und Fernsehen.

Öffentliche Verteidigung der Demonstranten
Autonome Arbeitsgruppe Kultur und Information (1970). Schriften zur Agitation Nr. 2. Verteidigung der Demonstranten – die Wahrheit über den Globuskrawall. Zürich. (Titelblatt, S. 28f.)

Mit traditionellen Geschlechterkonzepten gegen das Frauenstimmrecht
Aktionskomitee gegen das Frauenstimmrecht (1968). „Lasst uns aus dem Spiel! Frauenstimmrecht, Nein.“ Schweizerische Nationalbibliothek. Graphische Sammlung. Plakatsammlung.

Beatles‘ Revolution
The Beatles (1968). Revolution. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=BGLGzRXY5Bw (23.05.18).

Eine Chance für die Liebe
Neun Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen (1970). Aktion Rotes Herz. Flugblatt. Originalscan von Matthias Federer. Zürich.

Ein Zeitzeuge erzählt…
Hardegger, S., Räbsamen J. (02.02.2018). Interview mit Mathias Federer, Mit-Initiant der Aktion „Rotes Herz“. Zürich.

«68er» in der Ausbildung zur Sozialarbeit
Decurtins, R., Marx, R., Scheffmacher, V.,Schmid, R., Zünd T. (1976). Berufskrise angehender Sozialarbeiter oder Sozialarbeiter werden ist nicht schwer, Sozialarbeiter sein dagegen sehr. Diplomarbeit der „Ostschweizerischen Schule für Soziale Arbeit“. Kurs 1974/77. St. Gallen. (S. 5ff.)

Sozialarbeit: Paradoxes Verhältnis zu den „68ern“
Schweizer Arbeitsgemeinschaft der Schulen für Soziale Arbeit, Schweizer Berufsverband der Sozialarbeiter (Hrsg.) (1974). Die Sozialarbeit – der Sozialarbeiter. Broschüre. Illustrationen von E. Kopp. Bern.

Sammelbibliographie

Historischer Verein des Kantons St. Gallen (2016). Aufbruch. Neue Soziale Bewegungen in der Ostschweiz. In 156. Neujahrsblatt. St. Gallen, S. 7 – 13; 159f.

Epple, R., Schär, E. (2015). Spuren einer anderen Sozialen Arbeit. Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz 1900 – 2000. Zürich: Seismo, S. 183 – 272.

Hering, S., Münchmeier, R. (2000). Geschichte der Sozialen Arbeit. Einführung. Weinheim/München: Beltz Juventa, S. 227 -232.

Kaiser, M. (2019). Die ausgebliebene Revolution. Das Wissen an der Ostschweizerischen Schule für Sozialarbeit. In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 185 – 205). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St. Gallen.

Wissenschaftliche Kommission der Sankt-Galler Kantonsgeschichte (Hrsg.) (2003). Die Zeit des Kantons 1945 – 2000. Bd. 8. St. Gallen: Amt für Kultur des Kantons St. Gallen, S. 56 – 60.

Skenderovic, D., Späti, C. (2012). Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur. Baden: Hier & Jetzt, S. 97 – 190.

Tanner, J. (2015). Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck, S. 381 – 406; 423 – 429; 615 – 619.

Die Autorinnen

Stefanie Hardegger Camilla Rüttimann Jana Räbsamen Lisa Müller

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