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Die Entstehung des Sozialstaats in der Schweiz

Vertiefung: Das Fürsorgewesen in St. Gallen
Die Entstehung des schweizerischen Sozialstaates war ein Prozess, der sich von der Armenfürsorge der Kirche im Spätmittelalter bis zur Gegenwart und ihrem komplexen Geflecht sozialer Absicherung hinzog. Während dieser Zeit änderte sich nicht nur der Blick auf die Armen, die zunehmend als zu lösendes Problem wahrgenommen wurden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderten sich auch die Lösungsstrategien hinsichtlich der Armut: Neben die unmittelbare Hilfe für die Armen traten Massnahmen, die Armut überhaupt erst verhindern sollten: Es wurden Gesetze zum Schutz der Arbeiter erlassen und einzelne Kantone gründeten erste Versicherungen respektive subventionierten private Versicherungen. Die Tendenz, dass das Sozialwesen immer stärker in die öffentliche Hand gelangte, prägte in der Folge das 20. Jahrhundert – mit einer Gewichtsverschiebung von den Kantonen hin zum Bund. So wurde der grosse Ausbau des Sozialstaates nach 1945 ganz auf nationaler Ebene vorangetrieben. Trotz dieser Entwicklung spielen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (wie z.B. Deutschland) private Akteure im schweizerischen Sozialwesen noch heute eine wichtige Rolle. Wird der Entwicklungsprozess des Sozialwesens am Beispiel des Kantons St. Gallen nachvollzogen, fallen Ambivalenzen auf: So pendelte hier das Sozialwesen vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert zwischen Unterstützung und Eingliederung der Hilfsbedürftigen auf der einen und Disziplinierung und Ausgrenzung derselben auf der anderen Seite hin und her. Die Geschichte des Sozialwesens kann also nicht als reine Fortschrittsgeschichte erzählt werden.

Fremdbestimmung durch Bevogtigung

Verordnung des Kleinen Rats des Kantons St. Gallen zum Vormundschaftswesen, 1834.  
Am 13. Feburar 1834 trat in St. Gallen ein neues Gesetz über das Vormundschaftswesen in Kraft. Zusätzlich erliess der Kleine Rat eine Verordnung, mit der eine einheitliche Anwendung des Gesetzes im ganzen Kanton sichergestellt werden sollte. Die Verordnung bestand aus neun Artikeln, die alle das Thema „Waisenbuch“ behandelten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde der Not der Bedürftigen vielfach mit der sogenannten „Bevogtigung“ (Vormundschaft) begegnet. Hierbei wurde einem Vogt die Verantwortung für das Wohl von Menschen übergeben, welche aufgrund körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht in der Lage waren, ihre Vermögen selbst zu verwalten. Allerdings konnte eine „Bevogtigung“ auch prophylaktisch angeordnet werden – mit dem Gedanken, potenzielle Notfälle präventiv zu verhindern. Diese „Bevogtigungen“ sollten laut der Verordnung auch protokolliert werden (Artikel 7). Der Vogt hatte weitgehende Verfügungsgewalt über die bevogteten Personen, wobei der Zustand der „Bevogtigung“ automatisch den (zeitweisen) Verlust des Stimm- und Wahlrechts bedeutete. Der Vogt konnte beispielsweise eine Verdingung (Verkostgeldung) bei Erwachsenen oder auch Kindern anordnen, was in der Regel deren Ausnutzung als billige Arbeitskräfte bei kärglicher Ernährung und oft auch Misshandlung bedeutete. Artikel 9 der Verordnung, der die Gesetzeslage bei „Käufen und Verkäufen von Bevormundeten“ erläutert, lässt vermuten, dass die Bevormundeten sogar als Handelsware fungierten. Bis zum Verbot in St. Gallen von 1869 erfolgte die Platzierung der Bevogtigten zumeist nach dem Prinzip der „Absteigerung“: Die bevogtete Person wurde bei jenem Abnehmer platziert, welchem die Behörden am wenigsten bezahlen mussten. In vielen Fällen wurden Familienmitglieder separat untergebracht. Die Gesetzeslage zum Vormundschaftswesen macht deutlich, dass soziale Hilfe im 19. Jahrhundert immer auch Bevormundung bedeutete. Ökonomische Interessen und gesellschaftspolitische Überzeugungen führten dazu, dass Hilfsbedürftige nicht als selbstbestimmende Individuen leben durften.  

Eine ungewollte Bescherung

Der Text handelt von der Abschiebung von 320 der ärmsten Bewohner der Gemeinde Niederwil (AG). Der Verfasser beschreibt den Weg, welche die Emigranten nehmen, und informiert seinen Vorgesetzten, dass er das Konsulat vom Abfahrtshafen gebeten habe, den Namen des Transportschiffes direkt nach New York zu senden. Dort könnte sich die vorstehende Behörde dann selbst einen Überblick über die Verhältnisse verschaffen und situationsgemäss handeln. Des Weiteren warnt der Verfasser vor weiteren Emigranten. Der Text stammt aus einer Zeit, in der viele verarmte Schweizer auswanderten – sei es aus eigenem Antrieb oder weil sie dazu gedrängt wurden. Über 300’000 Schweizerinnen und Schweizer wanderten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Der Artikel ist Ausdruck einer Frühphase des Bundesstaates, in dem das soziale Auffangnetz löchrig und wenig komfortabel war: Öffentliche Sozialversicherungen gab es noch keine und viele lokale Behörden versuchten das Problem der Armut auszulagern, statt es aktiv anzugehen: So gab es viele Gemeinden, welche ihren eigenen Armen sogar die Auswanderung finanzierten, damit sie diese loswurden. Dieses Vorgehen löste, wie man im präsentierten Text sehen kann, Unmut in den Zuwanderungsländern aus, die für die Armen einen Platz zu finden mussten.
Ein Schreiben des amerikanischen Beamten G. H. Goundie aus dem Konsulat in Zürich vom 3. März 1855, abgedruckt in der „New York Times“ vom 30. März 1855.

Sozial Ausgestossene in St. Gallen

St. Galler Gesetz zur „Versorgung arbeitsscheuer und liederlicher Personen in Zwangsanstalten“ von 1872, Artikel 1 – 6.  
Das abgebildete St. Galler „Versorgungsgesetz“ von 1872 steht beispielhaft dafür, dass die moderne Umgestaltung des Sozialwesens auch in der Ostschweiz für die Hilfsbededürftigen nicht nur Unterstützung, sondern auch Disziplinierung und Ausgrenzung bedeutete. Bereits der erste Artikel zielte auf eine sozialdisziplinierende Wirkung. So sollten nach dem Gesetz nicht nur delinquente oder finanziell unterstützunsbedürftige Personen in eine Anstalt eingewiesen werden können. Eine Zwangseinweisung konnte auch präventiv erfolgen, wenn eine Person der „öffentlichen Unterstützung anheimzufallen“ drohte oder die „öffentliche Sicherheit“ gefährdete. Damit war es den Behörden möglich, von einer rein armenrechtlichen Zwangseinweisung abzuweichen und einen Weg hin zur Sanktionierung von abweichenden Lebens- und Verhaltensweisen zu beschreiten. Wenn eine Massnahme durchgeführt wurde, waren dabei grundsätzlich drei Instanzen beteiligt. Zum einen der Gemeinderat, das Bezirksamt und der Regierungsrat. Eine der Anstalten, wo diese angeblich arbeitsfähigen, aber „arbeitsscheuen“ und „liederlichen“ Personen ab dem Alter von 16 Jahren eingewiesen wurden, war das „Bitzi“ in Mosnang. Es war 1871 als „Toggenburgische Zwangsarbeitsanstalt“ gegründet worden und wurde seit 1904 vom Kanton St. Gallen geführt. Das „Bitzi“ sollte dazu dienen, dass die „arbeitsscheuen“
Frauen und vor allem Männer – zeitweise bildeten sie bis zu 80 % der Zwangsversorgten! – zu tüchtigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen würden. Entsprechend wurden die Deternierten zu harter Arbeit angehalten. Die meisten Männer mussten im Landwirtschaftsbetrieb der Anstalt anpacken, der sich von 1904 bis 1947 durch Neuerwerbungen und Umbauten zum grössten des Kantons entwickelte. Der staatliche Betrieb sollte ohne Defizite wirtschaften, wobei gleichzeitig der im Anstaltsreglement festgelegte Erziehungsanspruch eingelöst werden sollte. Dies funktionierte nicht: Einerseits musste das „Bitzi“ immer wieder mit staatlichen Subventionen unterstützt werden. Andererseits waren die Arbeitsbedingungen aufgrund der hohen Produktionsziele überhart: Dies galt auch für die unten links abgebildeten Männer, die 1932 im Gebiet des Hugenälpli einen Weg bauen mussten. Der Arbeitstag der „Bitzi“-Zwangsarbeiter dauerte im Sommer 10.6 Stunden und ab Herbst 10 Stunden. Erschwert wurde das Leben der Verwahrten zusätzlich durch soziale Ausgrenzung. So berichteten Insassen von ihrer Scham anlässlich der sonntäglichen Kirchgänge. In der Anstaltskleidung unter den herabwürdigenden Blicken der Bevölkerung in die Kirche pilgern zu müssen, sei immer eine Qual gewesen.    
Zwangsarbeiter des „Bitzi“ bauen einen Weg im Gebiet des Hugenälpli, 1932.  
Mitglieder der Staatswirtschaftlichen Kommission des Grossen Rats des Kantons St. Gallen besuchen das „Bitzi“, erste Hälfte 20. Jh.
Aufgrund diverser Probleme geriet das „Bitzi“ bereits in den 1880er Jahren in die Kritik. Insbesondere die grobe Behandlung der Insassen sorgte für Aufsehen. Wohl versuchte das „Bitzi“ im 20. Jahrhundert mit verschiedenen Reformen der Kritik zu entgehen. So wurde ein striktes Alkoholverbot auf dem ganzen Gelände eingeführt. Zugleich erhielten die Insassen mehr Rechte und es wurde ihnen ein kleiner Lohn zugesprochen, der den Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtern sollte. Auch das Selbstverständnis, dass das Bitzi nicht nur eine Arbeitsanstalt, sondern auch eine Erziehungsanstalt war, wurde gestärkt. Die Verwahrten sollten zu einer Lebensführung befähigt werden, welche den bürgerlichen Normen entsprach. Die Erfolge blieben jedoch überschaubar. Dies legt der Bericht einer Staatswirtschaftlichen Kommission nahe, welche das „Bitzi“, wie oben
rechts abgebildet, 1932 besuchte. Die Kommission hielt fest, dass es nicht möglich sei, die „Arbeitsscheuen, Trinker, Querulanten und mit Defekten mannigfacher Art ausgestatteten Typen in nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft“ umzuformen. Der Bericht stufte die Einrichtung daher „nicht als Erziehungs-, sondern als Versorgungsanstalt“ ein. Im Juli 1971 wurde im Kanton St.Gallen das fast hundertjährige Gesetz der Verwahrung von «Arbeitsscheuen» schliesslich aufgehoben. Das Parlament hielt das kantonale Versorgungsgesetz für nicht vereinbar mit der eben unterzeichneten europäischen Menschenrechtskonvention. Doch erst 1987 beschloss der Kanton, keine vormundschaftlich bedürftigen Personen mehr ins «Bitzi» einzuweisen.

Eine Fehleinschätzung?

Darstellung von Fritz Boscovits aus dem Nebelspalter, 13. Januar 1900.

Auf der Karikatur sind Don Quijote auf seinem Pferd und sein Stallmeister Sancho Panza abgebildet. Markiert sind sie mit den Begriffen „Kapitalismus“, „Versicherungsgegner“ und „Referendum“. Ihr Blick führt zu einer Windmühle, deren Flügel mit den Worten „Unfall“, „Invalidität“, „Kranken“ und „Versicherung“ versehen sind. Aus der Mühle blickt die Helvetia mit Lorbeerkranz. Die Windmühle ist für Don Quijote „der Dorn im Auge“, denn dessen vier Flügel sind Teil des Riesen, welchen Don Quijote bezwingen will. Der Nebelspalter positioniert sich hier deutlich auf der Seite der Sozialversicherungen. Die Versicherungsgegner werden in der Figur von Don Quijote als irrational dargestellt, da sie einen vergeblichen Kampf gegen etwas Harmloses führen – gegen Windmühlen respektive Sozialversicherungen, die den Menschen ihr Leben erleichtern würden. Begleitet wird die Kritik an den Versicherungsgegnern von antisemitischen Untertönen: So werden diese mit antisemitischen Prädikaten wie grossen Hakennasen, wulstigen Lippen und einem gekräuselten Bart ausgestattet. Die Illustration entstand ein paar Monate vor der Abstimmung über das Bundesgesetz betreffend Einführung einer Kranken- und Unfallversicherung sowie einer Militärversicherung. Die Vorlage von 1899 wurde von allen Parteien und Wirtschaftsverbänden befürwortet. Dennoch scheiterte sie, da knapp 70 % der Stimmberechtigten „Nein“ stimmten. Der „Nebelspalter“ irrte sich also in seiner Einschätzung eines vergeblichen Kampfes der Versicherungsgegner. Durch den Volksentscheid erfuhr die Idee von ausgebauten Sozialversicherungen einen herben Dämpfer und es folgten Jahrzehnte, welche durch kleine Teilschritte auf dem Weg zur allgemeinen sozialen Absicherung geprägt waren. Doch wie fällt das Urteil rückblickend aus? Ist dem „Nebelspalter“ auf die lange Dauer bei seiner Einschätzung eines „Kampfes gegen Windmühlen“ zuzustimmen? All die bekämpften Sozialversicherungen wurden in der Zwischenzeit eingeführt. Zugleich verfügen aber private Akteure im Schweizer Sozialstaat im internationalen Vergleich nach wie vor über eine starke Stellung.

Ein biblischer Aufruf

Darstellung von Fritz Boscovits aus dem Nebelspalter, 3. Februar 1912.

Zu sehen sind zwei Männer, welche die Arme eines dritten Mannes stützen, der einen Stein mit der Aufschrift „Einer für Alle, Alle für Einen! Kranken- und Unfall-Versicherung.“ emporstreckt. Auf der Kleidung der Männer steht derweil von links nach rechts „St.R. [Ständerat] Usteri“, „B.R. [Bundesrat] Forrer“ und „N.R. [Nationalrat] Hirter“. Im Text unter dem Bild wird die religiöse Symbolik noch klarer. In den Versen 11 und 12 aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 17 wurden die Namen der israelitischen Helfer Moses, Aron und Chur, mit den Namen Usteri und Hirter erweitert. Bundesrat Forrer in der Mitte stellt also Moses dar. Die Karikatur entstand kurz vor der Annahme des revidierten Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung durch das Stimmvolk (1912). Der Nebelspalter setzte damit ein klares Statement: Er stellte die Einführung dieser Versicherung als heilsgeschichtliches Ereignis für das Schweizer Volk dar: Der Versicherungsschutz als die „10 Gebote“ des frühen 20. Jahrhunderts. Das Unfallversicherungsgesetz von 1912 ging auf Bundesrat Ludwig Forrer zurück, dessen erster, ambitionierterer Versuch der Begründung eines Versicherungsschutzes 1900 in einer Volksabstimmung gescheitert war. Ständerat Paul Emil Usteri seinerseits war eine massgebende Persönlichkeit bei der Schöpfung der SUVA, welche 1918 den Betrieb eröffnete und deren erster Verwaltungsratspräsident er war. Zuvor war er der Direktor der Schweizerischen Lebensversicherungs- und Rentenanstalt gewesen. Nationalrat Johann Daniel Hirter war damals zusätzlich, neben seinem politischen Amt, der erste Präsident der Nationalbank, welche 1907 ins Leben gerufen wurde. Alle drei Männer gehörten der FDP an und unterstützten das Vorhaben einer obligatorischen Unfallversicherung. Der Grundsatz auf Forrers Schild „Einer für Alle, Alle für Einen!“ wurde zu einer Losung beim Ausbau des Schweizer (Sozial-)Staates. Ein Grundsatz, der seit der Jahrhundertwende in der Bundeshauskuppel prangt, der bezüglich des Aufbaus des Sozialstaates aber de facto erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in die Realität umgesetzt wurde.

Auf der faulen Haut liegen? – Nein!

Plakat der Gegner des 8-Stunden-Tages in Basel-Stadt, 1920.
Auf dem Bild erkennt man eine Familie, welche zu einem übergross dargestellten Arbeiter hinaufschaut und sich mit dem Vorwurf der Untätigkeit an ihn richtet. Der Arbeiter liegt mit qualmender Pfeife auf der faulen Haut und geniesst das Leben, statt das Haus der Familie fertigzustellen. Zusätzlich kann man am oberen Teil des Plakates den Slogan „Achtstundentag, da liegt er auf der faulen Haut, statt dass er’s Haus zu Ende baut.“ ausmachen. All dies sollte den Betrachter dazu veranlassen, am 4. Juli 1920 bei der Abstimmung zum „Sozi-Arbeitsgesetz“ von Basel-Stadt ein „Nein“ einzulegen. Die „Soziale Frage“ gewann mit dem rasanten Anwachsen der Arbeiterschicht ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Im Fokus stand dabei einerseits die Fabrikarbeit, spezifisch die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Ein Meilenstein bei der zunehmenden Reglementierung der Fabrikarbeit war das „Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken “, das ab 1877 erstmals nationale Standards setzte. Es führte den 11-Stunden-Tag ein und verbot die Kinderarbeit. Andererseits interessierten sich die Sozialreformer für die Wohnverhältnisse der Arbeiter. So bewirkte die Migration in die Städte Wohnungsknappheit und entsprechend prekäre Wohnverhältnisse, woraus dann wiederum Krankheiten und ganze Epidemien resultierten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fand die Sozialpolitik erste Antworten auf brennende Fragen. Dabei verschob sich der Fokus zunehmend weg von der „Sozialen Frage“ hin zu Aspekten der sozialen Sicherheit. So wurden erste Sozialversicherungen begründet, welche Menschen in Notlagen (Krankheit, Unfall, Tod des Ernährers usw.) finanziell absichern sollten, und auch die Option einer öffentlichen Altersvorsorge wurde intensiv diskutiert. Dass zentrale Aspekte der „Sozialen Frage“ aber auch im 20. Jahrhundert noch umstritten waren, zeigte sich am Ende des Ersten Weltkrieges. So bestand eine der Forderungen der Aktivisten des berühmten Landesstreiks vom November 1918 darin, dass sie Einschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden verlangten. In der Folge wurden tatsächlich Gesetze erlassen, welche die Arbeitszeit pro Tag auf 8 Stunden reduzierten. Dagegen wurde in verschiedenen Kantonen das Referendum ergriffen, das aber sowohl im Kanton Basel-Stadt als auch anderswo scheiterte.

Abstimmungskampf um die Arbeitszeit

Kampagnenmaterial zur nationalen Volksabstimmung über die „Lex Schulthess“, 1924.  
Der 8-Stunden-Tag respektive die 48-Stunden-Woche blieben trotz der erfolglosen Referenden nach deren Einführung umstritten. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Ersten Weltkrieg war nur von kurzer Dauer gewesen. Verschiedene Exportindustrien der Schweiz kämpften in der Folge aufgrund der Abwertung der Währungen in den Nachbarländern um Konkurrenzfähigkeit. Der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, der freisinnige Edmund Schulthess, trieb deshalb zu Beginn der 1920er Jahre eine erneute Arbeitszeitverlängerung voran. Mit seiner Gesetzesvorlage, der sogenannten „Lex Schulthess“, sollte, befristet auf drei Jahre, die 54-Stunden-Woche eingeführt werden. Das Anliegen stiess jedoch auf grossen Widerstand: Stimmen gegen den Gesetztesentwurf wurden vor allem im linken Lager und bei den Gewerkschaften laut. Bei der finalen Volksabstimmung von 1924 war die Volage chancenlos. Bei einer Stimmbeteilung von ca. 77 % wurde die „Lex Schulthess“ mit 57.6 % Nein-Stimmen abgelehnt. Das oben abgebildete Kampagnenmaterial gibt eine Eindruck davon, welche Konzepte im Abstimmungskampf um die „Lex Schulthess“ zirkulierten. Das Dokument ganz links stammt von den Befürwortern. Die Abbildung stellt in Aussicht, dass die Schweiz mit einer erhöhten Arbeitszeit den „Platz an der Sonne“ zurückerobern, sprich zurück zu wirtschaftlicher Prosperität finden würde. Ein Arbeiter schreitet der Sonne entgegen. Sein Weg ist gesäumt von goldenen Hügeln und gehüllt in gleissendes Licht. Die Arme sind weit geöffnet und heissen die strahlende Zukunft willkommen. Auf geschickte Weise kehrt die Darstellung die Vorstellung eines durch Industriearbeit geknechteten Proletariats ins Gegenteil: Die wahre Befreiung für den Arbeiter ist, wie die aufgeknackten Handschellen illustrieren, dessen Befreiung von der zu tiefen, wohlstandsgefährdenden Maximalarbeitszeit. Ganz anders argumentieren die beiden Abbildungen der Gegner der „Lex Schulthess“. Das mittlere Bild skizziert, wie das Leben der Menschen
aussehen würde, wenn die Arbeitsgesetzte ein «JA» an der Urne bekämen. Die Menschen sitzen in den Zügen und versuchen zu schlafen, da sie dazu in der Nacht kaum mehr kommen. Sie sehen erschöpft und ausgemergelt aus. Draussen ist es noch beziehungsweise schon dunkel und dennoch sind die Arbeiter unterwegs. Die Arbeit steht nun offensichtlich über allem, die eigenen Bedürfnisse müssen zurückgestuft werden. Nicht nur, dass Männer davon betroffen wären, nein, auch Frauen befinden sich in einem Zustand totaler Erschöpfung. Der Korb legt nahe, dass die Frauen auch ihr Essen mit zur Arbeit mitbringen müssen, damit möglichst wenig Zeit verloren geht. Noch radikaler argumentiert schliesslich das Plakat ganz rechts. Hier ist ein Mann zu sehen, der seine Hände abwehrend gegen den Himmel erhebt. Er sieht abgekämpft und müde aus. Seine Haut ist blass und alt. Ja mehr noch: Der Mann besitzt fast schon Klauen, womit angedeutet wird, dass der Mensch unter den extremen Arbeitsbedingungen, welche mit der „Lex Schulthess“ einhergingen, zunehmend verwildern würde. Der Mann verliert das Menschliche und wird zu einer Art Kreatur der Unterwelt. Passend dazu ist die industrielle Umgebung im Hintergrund: Düstere Farben und feuerspeiende Schornsteine erinnern an alteuropäische Darstellungen der Hölle. Trotz des hitzigen Abstimmungskampfes, der die Wähler in beindruckendem Mass zu mobilisieren vermochte, flauten die Diskussionen um Arbeitszeit in den folgenden Jahrzehnten ab. Von der Bildfläche verschwanden sie aber bis in die Gegenwart nicht: Verschiedene politische Vorstösse und Vereinbarungen mittels Gesamtarbeitsverträgen bewirkten, dass die durchschnittliche Arbeitszeit bis 2010 auf 41.6 Stunden gesunken ist. Noch im Jahr 2012 stimmten die Schweizerinnen und Schweizer über eine Volksinitative der Gewerkschaften ab, welche verbindliche sechs Ferienwochen für alle Arbeitnehmenden forderte. Die Vorlage wurde von 66 Prozent der Stimmenden abgelehnt.

Der steinige Weg zum Sozialstaat

Motiv auf Plakaten und Briefkarten, Erschaffer und Entstehungsort unbekannt, Entstehungszeitpunkt vermutlich 1947.  
Das Bild stellt die Sozialversicherung als Wagen dar, der von einer Schnecke gezogen und von drei offensichtlich wohlhabenden Männern absichtlich gebremst wird. Die Männer benutzen Bremsklötze, um den Wagen und damit die Schnecke zu verlangsamen. Die Räder sind zusätzlich an gewissen Stellen mit Seilen umwickelt und bei genauerem Betrachten fallen einem die Ketten an den Achsen und das lange Holzstück auf, welches zwischen die Speichen der Hinterräder geschoben wurde. Neben dem Bild ist das Gedicht der zweite Blickfang:  „Dies Gefährt voll Russ und Rost   Ist die Bundes-Schneckenpost,   Die von Bremsern wohl geleitet,   Statt nach vorn, nach rückwärts gleitet.   Nie wird sie ihr Ziel erreichen.   Greifet selber in die Speichen!   Fasset an! Das Ziel rückt nah   Durch ein tausendfältig Ja!“ Der Bund wird im Gedicht als eine Schnecke dargestellt, welche von der politischen und wirtschaftlichen Elite bewusst in die falsche Richtung geleitet würde. Die Urheber der Darstellung fordern in der Folge das Volk dazu auf, gegen diese Bremser vorzugehen und den Wagen ins Rollen zu bringen. Möglich werde dies durch „ein tausendfältig Ja!“, womit auf eine bevorstehende Abstimmung zu einer sozialpolitischen Vorlage angespielt wird.  
Gemäss Recherchen des Schweizerischen Sozialarchivs wurden Bild und Gedicht höchstwahrscheinlich für die Abstimmung über die Einführung der AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) vom 6. Juli 1947 kreiert. Der Weg bis zur AHV war, wie im Bild gezeigt, ein holpriger. Von ersten Beratungen in parlamentarischen Kommissionen von 1890 dauerte es bis zum 1. Januar 1948, bis das AHV-Gesetz in Kraft trat. Dazwischen lag ein zäher Prozess, bei dem verschiedene private und politische Akteure bewirkten, dass die Schweiz bezüglich öffentlicher Absicherung im Alter europäisch gesehen arg ins Hintertreffen geriet. Was das Bild nicht zeigt: Nicht nur konservative, wohlhabende Männer (Interessenvertreter der privaten Versicherer?) standen dem Aufbau einer Altersvorsorge im Weg: 1931 wurde eine erste AHV-Vorlage von den Stimmbürgern abgelehnt. 1947 wendete sich das Blatt, als eine neue Vorlage mit 80 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde.
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Quellenverzeichnis

Buch Buch Fremdbestimmung durch Bevogtigung
Verordnung des Kleinen Rats des Kantons St. Gallen zum Vormundschaftswesen (1834). In Gesetzes-Sammlung des Kantons St. Gallen. Von 1803 bis 1839 (1842). Bd. 1. St. Gallen, S. 562f. 11503204 J.rel. 1257-1 11503204 J.rel. 1257-1. Online unter: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10564421-9 (06.08.2018).

Eine ungewollte Bescherung
Goundie, G. H. (1855). More Paupers from Switzerland. Another Ship land on the Way. In New York Times, 30.03.1855. Online unter: http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=9F06EFDB123DE034BC4850DFB566838E649FDE (23.03.18)

Sozial Ausgestossene in St.Gallen
Der Grosse Rat des Kantons St. Gallen (1872). Gesetz betreffend die Versorgung arbeitsscheuer und liederlicher Personen in Zwangsarbeitsanstalten. In Bereinigte Gesetzessammlung des Kantons St. Gallen. Bd. 2. St. Gallen. 1956, S. 420 – 424. Online unter: https://www.staatsarchiv.sg.ch/home/forschungsprojekt/_jcr_content/Par/downloadlist_0/DownloadListPar/download_0.ocFile/Staatsarchiv_Forschungsbericht.pdf (06.08.2018).
Archiv des Massnahmenzentrums Bitzi, ohne Signatur. In Buch mit Titel «Kantonale Arbeitsanstalt Bitzi Statistik», Aufzeichnungen des ehemaligen Verwalters Haab.
Zangsarbeiter der Anstalt Bitzi beim Wegbau (ca. 1932). Staatsarchiv St. Gallen ZMA 17/060.

Eine Fehleinschätzung?
Boscovits, J. F. (1900). Der Dorn im Auge. In Nebelspalter v. 13.01.1900. Online unter: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1900:26#1473 (06.08.2019).

Ein biblischer Aufruf
Boscovits, J. F. (1912). „Biblisches.“. In Nebelspalter v. 03.021912. Online unter: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1912:38#1560 (06.08.2018).

Auf der faulen Haut liegen? – Nein!
Wyss, P. (1920). Achtstundentag. Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung © ZHdK. Online unter: http://mobile.hls-dhs-dss.ch/m.php?article=D16092.php (23.03.2018).

Abstimmungskampf um die Arbeitszeit
Stauffer, F. (1924). Fabrikgesetz Art. 41. Ja – Erobert den Platz an der Sonne zurück! Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung © ZHdK. Online unter: https://www.emuseum.ch/de/objects/62815/fabrikgesetz-art-41-ja–erobert-den-platz-an-der-sonne-zur (06.08.2018). Rechtsnachfolger konnte nicht ausfindig gemacht werden.
Moll, F. (1924). Plakat zur Abstimmung von 1924 zur Erhöhung der Arbeitszeit. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Ka-0001-104 (06.08.2018). Rechtsnachfolger konnte nicht ausfindig gemacht werden.
Künstler unbekannt (1924). Plakat zur Abstimmung von 1924 zur Erhöhung der Arbeitszeit. Wir stimmen nein – 48 Stunden sind genug. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Ka-0001-102 (06.08.2018). Rechtsnachfolger konnte nicht ausfindig gemacht werden.

Der steinige Weg zum Sozialstaat
Künstler unbekannt (vermutlich ca. 1947). Der neue eidgenössische Staatswagen. Motiv auf Plakaten und Briefkarten. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Pa-0002-020 (21.03.2018). Rechtsnachfolger konnte nicht ausfindig gemacht werden.

Sammelbibliographie

Degen, B. (2006). Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates. In Schweizerisches Bundesarchiv (Hrsg.). Geschichte der Sozialversicherung. L’histoire des assurances sociales. Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs. Bd. 31 (S. 17 – 48). Zürich: Chronos.

Christ, T. (14.11.2006). Fürsorge. In Historisches Lexikon der Schweiz. Online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D25809.php (06.08.2018).

Kaiser, M. (2019). Die ausgebliebene Revolution. Das Wissen an der Ostschweizerischen Schule für Sozialarbeit. In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 185 – 205). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St. Gallen.

Lengwiler, M. (2014). Dezentral und fragmentiert: Sozialpolitik seit dem späten Ancien Régime. In Arlettaz, S., Kreis, G.(Hrsg.). Die Geschichte der Schweiz (S. 422 – 425). Basel: Schwabe.

Studer, B. (1998). Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat 1848 – 1998. In Studer, B. (u. a.) (Hrsg.) Etappen des Bundesstaates. Staats- und Nationsbildung in der Schweiz (S. 159 – 186). Zürich: Chronos.

Zürcher, R. (2010). Armenfürsorge im Kanton St. Gallen im 19. Und 20. Jahrhundert. Von der Einwohnerarmenpflege zu den eidgenössischen Sozialversicherungen. In Hauss, G., Ziegler, B. (Hrsg.). Helfen Erziehen Verwalten. Beiträge zur Geschichte der Sozialen Arbeit in St. Gallen (S. 29 – 41). Zürich: Seismo.

Die Autoren

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