Energie

Energischer Widerstand: Die Anti-AKW-Bewegung

Vertiefung: Ein Fallbeispiel aus der Ostschweiz

Die Atomkatastrophe von März 2011 in Fukushima lancierte die Diskussionen über die Gefährlichkeit der Atomenergie weltweit neu. Auch in der Schweiz führte dieses einschneidende Ereignis zu einer intensiveren Diskussion, wie lange weiterhin elektrische Energie über Atomkraftwerke produziert werden soll. Im Mai 2011 gab der Bundesrat bekannt, dass er sich für einen langfristigen Atomausstieg entschieden habe. So sollten nach Ablauf der Lebensdauer keine neuen Atomkraftwerke in der Schweiz gebaut werden. Allerdings verwarf das Schweizer Stimmvolk im Jahr 2016 die Atomausstiegsinitiative, welche die Schliessung der Atomkraftwerke nach maximal 45 Jahren Betriebsdauer forderte. Geprägt durch wirtschaftliche Prosperität und den immerwährenden Fortschrittsoptimismus in den 1960er Jahren, hatte die Schweiz damals mit der Planung und dem Bau erster Atomkraftwerke begonnen. Ab den frühen 1970er Jahren sollte mit der Kernenergie, welche als umweltschonende und unbegrenzte Energiequelle galt, vorzugsweise die Stärkung der Wirtschaftlichkeit sichergestellt werden. Die Gefahr einer Verstrahlung und das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle fand schweizweit noch wenig Beachtung. Die Gegner von AKWs begannen, auf die sich häufenden Unfälle, die Gefahren und Risiken der Atomkraftwerke hinzuweisen. Früh formierte sich der Widerstand gegen die neue Energiegewinnung, so auch am Beispiel des in den 1960er Jahren geplanten AKW Rüthi im St. Galler Rheintal. In der Vorarlberger, Liechtensteiner und Ostschweizer Bevölkerung wuchs der Widerstand gegen das Projekt und es kam zu Gründungen diverser Aktionskomitees gegen den Bau.

Einschnitte in die Landschaft

Aufnahme des Modells des geplanten Kernkraftwerks Rüthi, Baudepartement St. Gallen, ca. 1972.

Fotomontage des geplanten Kernkraftwerks Rüthi, Baudepartement St. Gallen, ca. 1972.

Das Projekt eines geplanten Kernkraftwerks in Rüthi/SG führte in den 1970er Jahren zu kontroversen Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern. Grosser Widerstand gegen das Projekt formierte sich grenzüberschreitend als Folge der zunehmenden Ablehnung der Kernenergie. Die Bevölkerung im Rheintal dies- und jenseits des Rheins befürchtete einschneidende Verschlechterung der Lebensqualität und war nicht bereit, die Risiken im Zusammenhang mit der Kernenergie zu akzeptieren.

Die Abbildungen aus dem Staatsarchiv St. Gallen veranschaulichen das AKW-Projekt der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK). Abbildung 1 zeigt das Modell des AKWs. Die Abbildung 2 ist eine Fotomontage, welche darstellt, wie sich das AKW auf die nähere Umgebung auswirken würde.

In der Debatte über das AKW-Projekt war die Bevölkerung in Rüthi und Umgebung eine von vielen Gruppierungen, die sich gegen einen Bau aussprachen. Rund 500 Mitglieder gründeten im Jahre 1975 in Altstätten den Verein «Rüthi Nein».

Die Argumente der Betroffenen basierten dabei auf der Unberechenbarkeit der Kernenergie und den Emissionen bei der Produktion, welche einen Einschnitt in die Natur und Lebenswelt bedeuteten. Der Standort des geplanten AKWs war wie auch beim Projekt des AKWs Kaiseraugst grenznah geplant. Auf der Grundrisskarte, Abbildung 3, ist im untersten Bereich gerade noch der Rhein zu erkennen. Die Nähe zum Grenzfluss galt als Vorteil für die Entnahme des Wassers, welches zur Kühlung der Brennstäbe benötigt würde. Im Hinblick auf diese exponierte Lage des Standorts verwundert es deshalb nicht, dass sich ein vehementer Widerstand aus dem grenznahen österreichischen Bundeslandes Vorarlberg und dem Fürstentum Liechtenstein formierte. Parallelen lassen sich auch in Kaiseraugst finden, wo sich deutsche, französische und Schweizer AKW-Gegnerinnen und Gegner solidarisierten. Anfangs der 1980er Jahre wurde das Projekt in Folge des grossen Widerstands aus der Bevölkerung gestoppt.

Grundriss des geplanten Kraftwerks Rüthi, ca. 1972.

Legende

1) Reaktorgebäude

2) Reaktornebengebäude

3) Betriebsgebäude

4) Maschinenhaus

5) Werkzeug- und Lagergebäude

6) Kühlwasserreinigung und Pumpenhaus

7) Kühlturm

 

Rheintal in Gefahr

Politische Autoaufkleber der „Aktion sauberes Rheintal“, frühe 1970er Jahre

Im Jahre 1966 wurde die Erdölpipeline von Genua nach Ingolstadt durchs St. Galler Rheintal erstellt und konnte 1.1 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) pro Tag transportieren. Die St. Galler Regierung erhoffte sich in der Folge eine industrielle Entwicklung der Region. Die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) planten deswegen in den 1960er Jahren ein Öl-Kraftwerk im Raum Rüthi-Sennwald. Die Energieproduktion sollte über die Verbrennung von Roh- und Schweröl erfolgen, wobei täglich etwa 33 Tonnen Schwefeldioxid ausgestossen würden. Weiterführende Pläne gingen in den darauffolgenden Jahren so weit, dass am gleichen Standort eine Raffinerie gebaut werden sollte. Dazu kaufte die NOK 1963 von der Ortsgemeinde Rüthi das benötigte Grundstück. Gegen diese Pläne formierte sich der Widerstand. Mit einem möglichen Bau einer Destillerie oder einer Raffinerie würde eine erhebliche Umweltbelastung für das Rheintal bestehen. Mit den Autoaufklebern «Rheintal in Gefahr» wurde in den 1970er Jahren auf die Problematik aufmerksam gemacht.

Der Buchstabe «I» im Wort «Rheintal» wich einem Kamin der Destillerie bzw. der Raffinerie. Die Opposition warnte, das Rheintal würde mit einer Smog-Wolke überzogen und die austretenden umweltgefährdenden Gase würden sich über das ganze Rheintal und weitere Gebiete ausbreiten. Die Menschen sorgten sich um die Sauberkeit der Luft, und damit verbunden war auch die Sorge um ihre Gesundheit.
Im Jahre 1974 nahm die Destillerie ihren Betrieb auf. In den Jahren nach diesem Bau wurde vor allem gegen eine geplante Raffinerie protestiert. Allgemein hatte man die Befürchtung, dass auf dem Areal der NOK ein weiteres Grossprojekt realisiert werden könnte.
Der grosse Protest aus der Bevölkerung formierte sich besonders im österreichischen Vorarlberg und dem grenznahen Fürstentum Liechtenstein, wo sich im Jahre 1973 die Liechtensteinische Gesellschaft für Umweltschutz (LGU) gründete.
Wegen Umweltproblemen und hohen Sanierungskosten wurde der Betrieb der Erdölpipeline im Jahre 1997 eingestellt und durch eine Erdgas-Hochdruckleitung ersetzt.

Franz Jaeger

„Ich habe damals als junger Nationalrat das AKW Rüthi „erfolgreich“ bekämpft.“

Franz Jaeger

Ex-Nationalrat und emeritierter Wirtschaftsprofessor

An der zweiten Grossveranstaltung des Sommers 1975 sprach sich unter den geladenen Experten auch der ehemalige Nationalrat Franz Jaeger gegen den geplanten Bau des AKW Rüthi aus. Franz Jaeger wurde am 4. Dezember 1941 in St. Gallen geboren. Von 1972 bis 2007 lehrte er an der Universität St. Gallen Volkswirtschaftslehre und war von 1989 bis 2007 geschäftsführender Direktor des von ihm gegründeten Forschungsinstituts für Empirische Ökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität St. Gallen. Von 1971 bis 1995 gehörte er dem Schweizerischen Nationalrat an. Er war Mitglied des Landesrings der Unabhängigen und von 1985 bis 1992 Präsident dieser Partei.

Flyer des Vereins „Atomkraftwerk Rüthi Nein“, 1976.

Vier Jahrzehnte nach AKW Rüthi – Ein Gegner erzählt

Am  14.01.2019 führten Sebastian Lingenhöle und Fabio Ventura  in St. Gallen ein Interview mit Franz Jaeger. Seine Schilderungen gewähren einen Einblick in die 1970er-Jahre. Seine Wahrnehmung und Erlebnisse in Zusammenhang mit dem geplanten AKW im St. Galler Rheintal werden hier genauer beleuchtet.

Bagatellisierung des AKW-Baus

1975 wurde diese Karikatur im Satiremagazin Nebelspalter publiziert. Sie zeigt eine dreiköpfige Familie, welche zu einem noblen Herrn aufschaut, dessen Kopf als AKW-Kühlturm dargestellt ist. Seine Körperhaltung soll Überlegenheit darstellen. Über dem Kopf des AKWs schwebt eine Abgaswolke in Form eines Heiligenscheins. Der Gesichtsausdruck soll ruhig und gelassen wirken, gar beschwichtigend sein. Auch die Worte «Völlig harmlos!» sollen dem Bürger weismachen, dass man nichts zu befürchten habe. Dennoch blickt die Familie ungläubig zum grossen Mann auf. Sein Anzug ist gespickt mit den Aufschriften « Interessen». Diese «Interessen» stehen stellvertretend für die Interessen der Wirtschaft und Politik, das Atomkraftwerk bauen zu können, um das schnelle Geld mit der neuen Energieform zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger ahnen, dass dieses Projekt auch Schattenseiten hat. Der Eimer mit der Aufschrift Atommüll, welchen der Geschäftsmann hinter dem Rücken versteckt hält,  deutet das ungelöste Problem der Entsorgung der angereicherten Brennstäbe an.

„Dialog in Kaiseraugst“ von Jürg Spahr aus dem Nebelspalter, 23. April 1975

Internationaler Druck – Nachbarland Österreich setzt sich am stärksten gegen AKW-Bau in Rüthi, SG ein

Demonstration in Feldkirch (AT) gegen das geplante AKW in Rüthi, Zeitraum: 1973 bis 1975.

„Haltet Rüthi-Dreck vom subra Ländle weg!“ Dies war eines der vielen Transparente, welche rund 20.000 Bürger während einer Demonstration in Feldkirch begleitete. Die Bevölkerung Österreichs war 1976 durch eine speziell eingeführte Kampagne über Atomenergie aufgeklärt worden. Gegner und Befürworter von AKWs kamen hierbei zu Wort. Die Anti-Atomgruppen hatten sich schliesslich zu einer gesamthaften Bewegung zusammengeschlossen, sogenannten IÖAG (Initiative österreichischer Atomkraftwerksgegner). Diese versuchte landesweit, die Menschen gegen den Bau von AKWs zu mobilisieren: mit Erfolg. Das Bundesland Vorarlberg übte grossen Druck auf die Regierung in Wien aus. Die Vorarlberger wollten den Bau des AKW Rüthi unter allen Umständen verhindern. Das AKW-Projekt in Rüthi sollte mitunter durch die Unterstützung der Behörden gestoppt werden.

Österreich zog indessen sogar eine völkerrechtliche Lösung vor. Der Leiter der schweizerischen Delegation des Völkerrechtsbüros in Österreich war beauftragt worden, mit dem Bundesrat sowie der NOK Kontakt aufzunehmen. Alle beteiligten Parteien sollten möglichst rasch zu einer Lösung gelangen, um die angespannte Situation zu entschärfen. Das Schreiben an den damalig amtierenden Bundesrat Graber war eine Offenlegung zum bisherigen Verlauf bezüglich des geplanten AKW-Baus in Rüthi. In Anbetracht der Energieknappheit und eines geplanten Kernkraftwerks in Niederösterreich unterstützte Wien das Projekt. Die NOK und der Kanton St. Gallen sollten dabei in jedem Fall die strikte Einhaltung des völkerrechtlichen Nachbarrechts sowie die ökologischen Bestimmungen gewährleisten.

Die Anti-AKW-Bewegung im Nachbarland Österreich

Ein Ton-Dokument des Zentrum Polis gibt Einblicke in die österreichische Anti-AKW-Bewegung der 1970er Jahre. Die Reportage gibt einen historischen Abriss zum österreichischen Widerstand, wobei der Kommentar von Statements unterbrochen wird, die aus verschiedenen österreichischen (Dokumentar-)Filmen entnommen worden sind.

Der Physiker Helmut Hirsch war zuständig für die Vorbereitung der Kampagne zur Aufklärung von Atomenergie. Erstaunlich ist, dass sich Herr Hirsch im Verlaufe seiner Arbeit vom Befürworter, zum Gegner von AKWs entwickelte.

Die zentralen Forderungen der IÖAG sowie deren Entwicklung als Organisation Mitte der 1970er Jahre werden genauer erläutert.

Baustopp

Der Bericht des Schweizer Fernsehen (SF) zeigt sehr prägnant, wie aus einem regionalen Protest eine nationale Bewegung entstand, welche weit über die Landesgrenze auf die Unterstützung vieler Menschen zählen durfte. Ähnlich wie in Rüthi formierte sich eine transnationale Anti-AKW-Bewegung mit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland.

In Kaiseraugst wie in Rüthi argumentierten die AKW-Gegner mit den ähnlichen Gründen gegen den Bau. Das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen A-Werke (NWA) konnte gegenüber dem Bundesrat beweisen, dass die Wasserqualität des Rheins leiden würde. Dies zwang den Bundesrat auf Flusswasserkühlung zu verzichten. Ein weiteres Problem aus Sicht der Gegner war die Dampffahne, welche das Klima beeinflussen würde.

Das gewaltfreie Komitee Kaiseraugst entschied Mitte der 70er Jahre, die Baustelle zu besetzen und so lange auszuharren, bis ihre Forderungen erfüllt würden. Diese Aktion wurde von vielen Parteien unterstützt und dauerte 11 Wochen. Die Gegner hatten unzählige Anliegen, denen der Bundesrat nicht nachgekommen war. Zu den Gegnern des geplanten AKWs gehörten engagierte Bürgerinnen und Bürger aus allen sozialen Schichten: Studierende, Mitglieder von Umwelt-Organisationen, Parteimitglieder und Menschen aus der näheren Umgebung des Bauplatzes. Die gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK) entschied, die Baustelle so lange zu besetzen, bis die offenen Fragen und Anliegen beantwortet waren.

Beitrag zur Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst aus der Sendung „CH-Magazin“ des Schweizer Fernsehens, 25.04.1975.

Aktion gegen das AKW Kaiseraugst

Flyer der Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK), 1975.

In den 1970er Jahren begann man in Kaiseraugst mit dem Bau eines AKWs. Dieses Projekt führte bereits vor Baubeginn zu grenzüberschreitenden, kontroversen Diskussionen. In dieser Zeit gründete sich das gewaltfreie Aktionskomitee Kaiseraugst, welches den Bau des AKWs verhindern wollte.

Im Bild sieht man das Logo der gewaltfreien Aktion Kaiseraugst. Man erkennt auf den ersten Blick, was das Ziel der Aktion war. Die AKW-Gegner wollten einen Baustopp erlangen, um in dieser Zeit die Anliegen mit dem Bundesrat zu besprechen.

Die beiden Pfeile (rot und grün) sagen im Zusammenhang der AKW-Debatte etwas Wichtiges aus. Der rote und kleinere Pfeil steht symbolisch für die erzeugte Energie aus den AKWs. Der grüne, etwas grössere und dickere Pfeil steht für die alternativen Energieformen, welche aus Wasserkraftwerken, Verbrennung etc. gewonnen werden.

 Die alternativen Energien, die man heute kennt (Solarenergie und Windenergie), spielten in den 1970er Jahren noch eine sehr kleine Rolle.

Mit diesen zwei Pfeilen verdeutlicht die gewaltfreie Aktion Kaiseraugst die Bedeutung der alternativen Energien. Mit den verschiedenen Grössen der Pfeile wird zudem veranschaulicht, dass die Kernenergie weniger Bedeutung erhält.

Das sternförmige Symbol in der Mitte des Logos, bei welchem mehrere Ellipsen übereinanderliegen, ist als Atomsymbol bekannt und verdeutlicht die Auseinandersetzung mit der Atomenergie. Das Symbol steht auch stellvertretend für die Atomenergie. Die Abkürzung der gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK) ist innerhalb des Atomsymbols eingebettet.

Das Schweizer Fernsehen berichtete 1975 über die Besetzung des Geländes des geplanten AKW Kaiseraugst. Dabei kamen die verschiedenen Komitees und Menschen, welche gegen die Baupläne demonstrierten, zu Wort. Die gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK) widerlegte die Argumente der Befürworter und fasste in einem Argumentationskatalog die Fakten zusammen, welche gegen einen Bau sprachen.

Unermüdlicher Anti-AKW-Einsatz wird nach Jahrzehnten anerkannt

Im Herbst 2017 wurden Anti-AKW-Aktivistinnen und Aktivisten mit dem «Nuclear-Free Future Award» ausgezeichnet. Der Preis wurde an all jene verliehen, die sich seit vielen Jahren für den Baustopp von Kernkraftwerken eingesetzt hatten und existierenden AKWs sowie der maroden Endlagerung entgegentraten. Die Preisverleiher sind überzeugt, dass es ohne deren Engagement zum Bau eines Atomkraftwerks in der Nordostschweiz gekommen wäre. Das geplante AKW in Kaiseraugst in den 1970er-Jahren war Schauplatz einer polarisierenden Energiegesellschaft.

„In den 1970er- und 1980er Jahren wehrte sich die Region Nordwestschweiz erfolgreich gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Kaiseraugst. Am 15. September werden einige Exponenten der Anti-AKW-Bewegung für ihr Engagement ausgezeichnet.“

Valentin Zumsteg

Neue Fricktaler Zeitung vom 03.09.2017

Eine Veränderung des Gesellschaftsdenkens wurde erkennbar. Mit der Belagerung des Baugeländes befanden sich die gegnerischen Aktivistinnen und Aktivisten im illegalen Bereich. Sicherheit, Gesundheit und der Erhalt der Natur waren Argumente, den Einsatz beharrlich fortzuführen. Und dies stets im Bewusstsein möglicher Vergeltungsmassnahmen durch den Staat. Heute wird dieser Kampf als wertvolle Aktion betrachtet. Für die entschlossene Wehrhaltung gegen den Bau zeigt man sich nun erkenntlich.

Freiwillige protestierten am 9. April 1975 auf dem Baugelände in Kaiseraugst. Besonders engagierte Personen erhielten mehr als 40 Jahre nach ihrem Einsatz den „Nuclear-Free Future Award“.

Mir hän dr Atomdrägg, die dr Gwünn…

Liedermacher Aernschd Born, 1975.

Aernschd Born wurde 1949 in Zürich geboren. Während seiner Lehre als Reprofotograf in Basel begann er in den späten 1960er Jahren mit dem Schreiben erster Lieder und trat bei Konzerten in der Schweiz auf. Zwischen 1970 und 1973 befand sich Born im Auslandaufenthalt in Milano und Kopenhagen. Danach verdiente er sein Geld vor allem als Strassenmusiker an vielen Orten Europas. Von 1973-1980 war er Songwriter und gab zahlreiche Konzerte, war auf Tournee und nahm Schallplatten auf. In dieser Zeit entstand auch der Song „D Ballade vo Kaiseraugst“.

Aernschd Born demonstrierte in seinen Jugendjahren mehrmals gegen den Staat. In einer Mail vom 3. März 2019 schreib der Liedermacher, der Bund habe damals Rahmenbedingungen aufgestellt, welche dem fortschrittlichen Denken im Wege gestanden seien. Entwicklungen, die für das Überleben des Planeten Erde essentiell gewesen wären, seien nicht in Erwägung gezogen worden. Ferner seien schädliche Energievarianten wissentlich gewählt worden, um das Florieren der Wirtschaft zu gewährleisten.
Die heutige Klimaproblematik und die dadurch entstandenen Schülerstreiks erinnern Born an die damalige Zeit. Er würde es gutheissen, wenn aus diesen Demonstrationen eine neue, grosse Strömung entstehen würde. Die daraus resultierende Medienpräsenz könnte genutzt werden, um die Politiker schneller zur Umsetzung umweltfreundlicher Bestimmungen zu drängen. Insbesondere Fragen zur Atommüllendlagerung könnten durch die heutigen Möglichkeiten zeitnah geklärt werden, da bislang noch keine zufriedenstellende Lösung für die Entsorgung atomarer Abfälle gefunden wurde. Die Fehler, welche einem AKW-Angestellten unterlaufen können, und der Mensch sei nun mal «fehlerhaft», wären in jeglicher Hinsicht unbezahlbar und würden «irreparable Katastrophen» nach sich ziehen, welche viele Generationen später noch betreffen würde. Darum befürwortet Aernschd Born, dass die Jugendlichen von heute ebenfalls für das Klima streiken und hofft, dass nun endlich Taten von Seiten des Bundes folgen werden.

«Heute gibt es nicht mehr die soziale Strömung, sondern viele kleine Wellenbewegungen.»

Ernst "Aernschd" Born

Liedermacher und Umweltaktivist, 03.03.2019

«Ironie und Humor ist die Waffe der Kleinen gegen die Macht der Grossen.»

Ernst "Aernschd" Born, 03.03.2019

1975 fanden diverse Informationsveranstaltungen zum Thema Atomkraft statt. Zahlreiche Interessenverbindungen zeigten die Probleme der AKW-Thematik an ihren Treffen grafisch auf. Der Veranstaltung der POB (Progressive Organisationen Basel) veranlasste Born schliesslich dazu, die Problematik in eine gesungene Geschichte, eine Ballade, einzubetten. Durch aufwändige Recherchen in der Universitätsbibliothek Basel und das Beiwohnen an weiteren Versammlungen entstand «d Ballade vo Kaiseraugst».
Die gesamte Besetzungsdauer zur Verhinderung des AKW Kaiseraugst verbrachte der Liedermacher auf dem Gelände des Atomkraftwerks und sang seine Ballade. Durch den eingängigen und zugleich simplen Text wurden Menschen aus allen Bildungsschichten angesprochen. Sie wurden motiviert, die geplante Umsetzung des Kraftwerkes zu verhindern. Die Demonstration war gelungen. Sie war zudem Grundstein für viele weitere, teils auch nicht erfolgreiche Kundgebungen.
Aernschd Born wurde mit dieser Ballade über die Grenzen hinaus bekannt und konnte dadurch ein immer grösseres Publikum auf die AKW-Problematik aufmerksam machen. Die bis anhin wenig beachteten Gefahren wurden bei Tourneen und Medienauftritten wiederholt angesprochen. Schliesslich wurde er zum Geschäftsführer der NWA (Nie wieder AKWs) und TRAS (Trinationaler Atomschutzverband) gewählt. Seit seiner Pensionierung ist er als Kurator der Dokumentationsstelle Atomfreie Schweiz (www.atomfrei.ch) in Basel tätig.

„D Ballade vo Kaiseraugscht“ von Aernschd Born, 1975.

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Quellenverzeichnis

Einschnitte in die Landschaft
Aufnahme des Baudepartements St. Gallen vom Modell des geplanten Kraftwerks Rüthi. In StASG A 486/4.2.1-2. Online unter: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=692035 (14.11.2019).
Fotomontage des Baudepartements St. Gallen vom geplanten Kraftwerk Rüthi. In StASG A 486/4.2.1-2. Online unter: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=692035 (14.11.2019).
Grundriss des geplanten Kraftwerk Rüthi. In StASG A 486/4.2.1-2.

Rheintal in Gefahr
Aufkleber online unter: http://mariobroggi.li/app/uploads/2018/07/180613_Sennwald-und-R%C3%BCthi.pdf#page=2 (15.11.2019).

Franz Jäger
Foto Franz Jäger von Fotograf Daniel Ammann
Flugblatt. In StASG W 116/04. Online unter: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=106950 (15.11.2019).

Vier Jahrzehnte nach AKW Rüthi – ein Gegner erzählt
Interview von Sebastian Lingenhöle und Fabio Ventura mit Franz Jaeger, St. Gallen, 14.01.2019.

Bagatellisierung des AKW-Baus
Spahr, Jürg (Jüsp) (1975). Dialog in Kaiseraugst. Nebelspalter, 101(17), S. 42.

Internationaler Druck – Nachbarland Vorarlberg setzt sich am stärksten gegen AKW–Bau in Rüthi/SG ein
Zentrum Polis (o. J.). Politik. Lernen in der Schule. Erster Wiener Protestwanderweg. 2. Kapitel: Von Feldkirch bis St. Pantaleon. Wien. Online unter: http://www.protestwanderweg.at/akw/akw_02.php (02.03.2019).

Die Anti-AKW-Bewegung im Nachbarland Österreich
Zentrum Polis (o. J.). Politik. Lernen in der Schule. Erster Wiener Protestwanderweg. 2. Kapitel: Von Feldkirch bis St. Pantaleon. Wien. Online unter: http://www.protestwanderweg.at/akw/akw_02.php (02.03.2019).

Baustopp
SF DRS CH-Magazin vom 25.04.1975. © Schweizer Radio und Fernsehen.

Aktion gegen das AKW Kaiseraugst
Bernard Schlup, Copyright Schweizerisches Sozialarchiv. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_5053-Ob-217 (15.11.2019).

Unermüdlicher Anti-AKW-Einsatz wird nach Jahrzehnten anerkannt
Zumsteg, V. (2017). Neue Fricktaler Zeitung. Die Anti-AKW-Bewegung wird geehrt. Rheinfelden. Online unter: https://www.nfz.ch/2017/09/die-anti-akw-bewegung-wird-geehrt.html (02.03.2019).
KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR, Bild 2219971. Online unter: https://visual.keystone-sda.ch/preview/-/preview/open/2219971 (15.11.2019).

Mir händ dr Artomdrägg, die dr Gwünn
Aerndsch Born – auf dem besetzten AKW-Gelände in Kaiseraugst (1975) – Foto: Claude Giger.
Aernschd Born, Fotografie von 2007 von Jen Preusler.
Aernschd Born (1975). d Ballade vo Kaiseraugscht. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=94tizD4tX5A (15.11.2015).
Zitate aus einer Mail von Ernst Born an Sebastian Lingenhöle vom 03.03.2019

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Die Autorin und die Autoren

Fabio Ventura
Maria König
Sebastian Lingenhöle

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