Energie

Nutzung der Wasserkraft in der Schweiz

Vertiefung: Projekte im Kanton St. Gallen

Die Wasserkraft ist für die Schweiz essentiell. 2017 werden rund 57 % des Schweizer Stroms daraus gewonnen. Trotz idealer Bedingungen war die Integration der Wasserkraft ins Schweizer Energienetz aber keineswegs ein „Selbstläufer”. Sie war von einem stetigen Aushandlungsprozess geprägt: Diesem liegen einerseits pragmatische Interessen zugrunde wie das unternehmerische Profitstreben, das kommunale Interesse an neuen Abgaben und höheren Steuereinnahmen, aber auch der Wunsch der Zivilbevölkerung, den eigenen Lebensraum zu erhalten. Andererseits waren die Auseinandersetzungen um Wasserkraftwerke geprägt von abstrakten Idealen, deren Förderung respektive Erhalt unterschiedliche Akteure für sich reklamierten.

Ein Ideal, auf das sämtliche politische Lager rekurrierten, war das Allgemeinwohl. Das Bedürfnis, die Abhängigkeit vom Ausland zu reduzieren, war schon im 19. Jahrhundert vorhanden, doch mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dessen wirtschaftlichen Folgen wurde die Idee einer von ausländischen Rohstoffen unabhängigen Schweiz immer lauter postuliert. Folglich wurde das Wasser zum eigenen Rohstoff, zur “weissen Kohle” erklärt und der Bau von Wasserkraftwerken von deren Befürwortern als Förderung des nationalen Wohls ausgegeben. Aber auch die Gegner gaben vor, für das Allgemeinwohl zu kämpfen – einfach für das Lokale.

Mitte des 20. Jahrhunderts tauchte in politischen Debatten ein zweites abstraktes Ideal auf: Die Natur. Naturschutz wurde nun zunehmend zum Selbstzweck. Die Projekte der Energiewirtschaft wurden von deren Gegnern als Gefahren für die nationale Landschaft gebrandmarkt. Als Alternative wurde die aufkommende Atomenergie vorgeschlagen, die in dieser Phase noch als umweltfreundlich galt. Die moderne Umweltschutzbewegung mit ihrer globalen Perspektive sowie ihrer Kritik an Kernenergie und CO2-Ausstoss veränderten den Blick auf die Nutzung der Wasserkraft ab den 1970er Jahren erneut.

Auch im Kanton St. Gallen wurde der Bau von Wasserkraftwerken gefördert. Das Kraftwerk “Kubel” (1897–1900) in St. Gallen sowie das Projekt im Sarganserland in den 1970er Jahren stehen exemplarisch für zwei unterschiedliche Phasen in der Ära der Entwicklung Schweizer Wasserkraftwerke. Beispielhaft lassen sich an ihnen Interessen, Argumente und Überzeugungen ihrer Zeit aufzeigen.

Hindernisse vor der Erleuchtung

Ausschnitt aus der „Illustrierten schweizerischen Handwerker-Zeitung“ Heft 17, 1915.

Die elektrische Energie tauchte in den 1880er Jahren in der Schweiz zusammen mit den ersten Wasserkraftwerken zur Stromproduktion auf. In den Haushalten stiess die neue Energieform auf Skepsis. So auch die  Glühbirne, die eigentlich die Vorteile hatte, dass sie geruchlos und leichter zu bedienen war als die gängigen Gas- und Petroleumbeleuchtungen. In der Konsequenz verlief die Elektrifizierung in der Schweiz schleppend. Ausdruck davon ist es, dass sich die  „Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung“ noch im Jahr 1915 programmatisch dem Thema widmete. Die Zeitung präsentierte sich als ein unabhängiges Geschäftsblatt der gesamten Meisterschaft aller Handwerke und Gewerbe. Sie hat es sich gemäss Ihrer ersten Ausgabe von 1885 zum Ziel gesetzt, „[…] die Meister und Gesellen aller Gewerbszweige mit den neusten Erfindungen und Erfahrungen auf ihrem Gebiet bekannt [zu] machen und dadurch mit praktisch verwertbaren nutzbringenden Neuigkeiten [zu] bedienen […]“. Im oben abgebildeten Artikel „ausgiebige Elektrifizierung des Schweizerlandes“ werden die vielfältigen Hindernisse der Elektrifizierung der Schweiz aufgezählt. Problematisiert werden nicht nur die Ansichten in der Bevölkerung, sondern auch Hemmnisse wirtschaftlicher und struktureller

Natur, beispielsweise die mangelhafte Kooperation zwischen den Elektrizitätsgesellschaften. Konkret heisst es:  „Die Ausführung [des Plans, die Schweiz umfassend zu elektrifizieren,] aber wird noch auf grosse Hindernisse stossen, denn es finden sich Hindernissse technischer und finanzieller Natur, Hindernisse in der zerstreuten Bauart, viel grössere Hindernisse in den Köpfen der Menschen, aber auch grosse Hindernisse in den Vertretern der elektrischen Werte und Zentralen, die in unverständiger und kurzsichtiger Weise die Ausbreitung der elektrischen Energie hindern statt fördern.“

Der Verdruss über den angeblichen Verzug der Elektrifizierung in der Schweiz führt im Artikel zu einem ambitionierten Programm: Die Leserschaft wird aufgerufen, „alle Gemeinden und Gehöfte mit elektrischer Energie zu versehen, so dass jeder Hausbesitzer in der Lage ist anzuschliessen.“ Die Forderung nach einem massiven Ausbau der Stromproduktion wird schliesslich in die Losungen verpackt, dass „elektrische Beleuchtung Volksbeleuchtung werden“ und „kein Wasser mehr unnütz abwärts“ fliessen solle.

Unsere Kohle ist weiss!

Der Erste Weltkrieg brachte in der Schweiz einen Brennstoffmangel und den Wunsch nach Energieautarkie. Die Energiegewinnung mittels Fluss- und Speicherkraftwerken galt nun als Angelegenheit von nationalem Interesse. Die Schweizer Wasserkraft wurde zur „weissen Kohle“ erklärt, zum nationalen Pendant der schwarzen „dreckigen“ Kohle des Auslandes. Das Ideal einer energiepolitischen Unabhängigkeit deutet sich denn auch im oben abgebildeten Artikel der „Illustrierten schweizerischen Handwerker-Zeitung“ aus dem Jahre 1915 an. So heisst es: „Alsdann aber soll man auch den Kraftbedarf tunlichst mit elektrischer Energie decken. Ferner sollen wir auch danach trachten, die übrigen Verwendungsarten wie z. B. Kochen, Heizen, Glätten und vergl. soweit tunlichst auf elektrischem Wege zu decken. Das muss unser Plan sein auch dann, wenn wieder viel und billiges Petrol zu haben ist. Die Schweiz hat ein nationales Interesse, die elektrische Energie in vollkommenster Weise auszunützen.“ Nachdruck verliehen wird den entsprechenden Forderungen mit dem Verweis auf ein Kreisschreiben des Bundesrates, das sich ebenfalls für eine forcierte Elektrifizierung ausgesprochen haben soll. Dem Ausbau der Wasserkraftinfrastruktur wirkte in der Zwischenkriegszeit vorerst die wirtschaftliche Depression entgegen.

Plakat von Alex Walter Diggelmann aus dem Jahr 1936, Erscheinungsort unbekannt.

Der Wunsch nach Energieautarkie blieb aber bestehen und wurde ab Mitte der 1930er Jahre wieder lauter postuliert. Im Zuge der „Geistigen Landesverteidigung“ erlebte der Rekurs auf das Nationale und die Bewahrung von dessen materiellen und immateriellen Werten eine besondere Konjunktur. Davon zeugt das abgebildete Plakat des Graphikers Alex Walter Diggelmann.

Die Inschrift des Plakates lautet: „Elektrizität aus Wasserkraft, unser nationales Gut“. Die Schweiz wird als Bergnation dargestellt, womit auf das Potential der grossen Wasservorkommen und des Gefälles hingewiesen wird.

 Die Hochspannungsleitungen mit Isolationselementen im Vordergrund erinnern an eine lebensrettende Infusion. Berg, Gebirgsbach und Stromleitung sind in klarem Weiss gehalten, ganz in der Symbolik der „weissen Kohle“. Die Verknüpfung der Hochspannungsleitungen mit der Schweizer Flagge soll auf die Notwendigkeit der Elektrifizierung hinweisen. In der ganzen Schweiz soll Strom produziert werden und die ganze Nation soll ans Stromnetz angeschlossen werden.  Die Wasserkraft stelle die dafür notwendige Ressource dar.

Der Zwang zu regeln

Bundesgesetz betreffend die elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen

(Elektrizitätsgesetz, EleG) vom 24. Juni 1902 (Stand am 1. Januar 2018) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in Anwendung der Artikel 23, 26, 36, 64 und 64bis der Bundesverfassung, nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 5. Juni 1899, beschliesst:

  I. Allgemeine Bestimmungen

  Art. 1 Die Erstellung und der Betrieb der in den Artikeln 4 und 13 bezeichneten elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen wird der Oberaufsicht des Bundes unterstellt, und es sind für dieselben die vom Bundesrate erlassenen Vorschriften massgebend.   Art. 2 1 Als Schwachstromanlagen werden solche angesehen, bei welchen normalerweise keine Ströme auftreten können, die für Personen oder Sachen gefährlich sind. 2 Als Starkstromanlagen werden solche angesehen, bei welchen Ströme benützt werden oder auftreten, die unter Umständen für Personen oder Sachen gefährlich sind. 3 Wenn Zweifel bestehen, ob eine elektrische Anlage als Starkstrom- oder als Schwachstromanlage im Sinnes dieses Gesetzes anzusehen sei, so entscheidet darüber das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Departement) endgültig.   Art. 3 1 Der Bundesrat erlässt Vorschriften zur Vermeidung von Gefahren und Schäden, welche durch Stark- und Schwachstromanlagen entstehen. 2 Er regelt:
  1. die Erstellung und Instandhaltung sowohl der Schwachstrom- als der Starkstromanlagen;
  2. die Massnahmen, die bei der Parallelführung und bei der Kreuzung elektrischer Leitungen unter sich, und bei der Parallelführung und der Kreuzung elektrischer Leitungen mit Eisenbahnen zu treffen sind;
  3. die Erstellung und Instandhaltung elektrischer Bahnen;
  4. den Schutz des Fernmeldeverkehrs und des Rundfunks (Art. 37 des Fernmeldegesetzes vom 21. Juni 1991) vor elektromagnetischen Störungen.
3 Der Bundesrat hat bei Aufstellung und Ausführung dieser Vorschriften auf Wahrung des Fabrikgeheimnisses Bedacht zu nehmen.
Auszug aus dem Bundesgesetz betreffend die elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen vom 24. Juni 1902 (Stand am 1. Januar 2018).
In einer frühen Phase der Elektrizitätswirtschaft führte das Fehlen von gesetzlichen Regelungen zu Konflikten. Diese konnten beim Aufbau von Verteilnetzen entstehen, wie ein Vorfall in der Gemeinde Rheinfelden exemplarisch zeigt: Das private Kraftwerk Rheinfelden (1898 eröffnet) forderte die Errichtung von Stromleitungen über Grundbesitz der Gemeinde Rheinfelden zur Speisung der Nachbarsgemeinde. Die Gemeinde Rheinfelden  stellte sich jedoch quer, sehr zum Missfallen des Kraftwerks, das sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf ein einheitliches und verbindliches Verfahren zur Enteignung und Entschädigung von Grundbesitz hätte berufen können. Ein Mangel an Regulierungen zeigte sich auch, als 1898 in Zürich eine Schwachstromleitung auf die unter Starkstrom stehende Oberleitung der Strassenbahn fiel. Die 600 Volt des Starkstromes führten dazu, dass die Telefonzentrale in Zürich ausbrannte. Starkstromanlagen standen unter Kontrolle von Privaten, Schwachstromablagen für Telefonie und Telegrafie fielen in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. In den Medien machten sich darauf gegenseitige Schuldzuweisungen breit, die zeigen, dass die Kooperation zwischen Privaten und dem Bund schlicht mangelhaft war.
Als Folge dieser Abstimmungsprobleme und daraus resultierender Konflikte wurde 1902 das Starkstromgesetz eingeführt, dessen „Allgemeine Bestimmungen“ in aktualisierter Form oben abgebildet sind. Die Kontrolle der Starkstromleitungen fiel mit dem Gesetz dem Bund (damals dem „Eidgenössischen Technischen Inspektorat“) zu. Interessant ist, dass Artikel 3 des Gesetzes noch in seiner heutigen Formulierung als Reaktion auf den Zwischenfall in Zürich aus dem Jahr 1898 gelesen werden kann. „Der Bundesrat erlässt Vorschriften zur Vermeidung von Gefahren und Schäden, welche durch Stark- und Schwachstromanlagen entstehen. Er regelt die Massnahmen, die bei der Parallelführung und bei der Kreuzung elektrischer Leitungen unter sich, und bei der Parallelführung und der Kreuzung elektrischer Leitungen mit Eisenbahnen zu treffen sind“. Weiter wurde durch das Gesetz die Aufsicht über den Bau und den Betrieb der elektrischen Anlagen dem Bund übertragen. Nachdem in den Pionierjahren die elektrischen Anlagen zumeist von privatwirtschaftlichen Akteuren gebaut und betrieben worden waren, beförderte dieser Entscheid die zunehmende Kommunalisierung des Elektrizitätswesens.

Appenzell: Mit Elektrizitätsprojekten wird nicht gespielt!

Karikatur des geplanten Lankseewerks aus dem Nebelspalter Nr. 44 vom 30. Oktober 1925.
In der abgebildeten Karikatur widmete sich der Nebelspalter 1925 dem Lankseeprojekt. Mit dem Lanksee als zweitem Stausee neben dem bereits bestehenden Gübsensee sollte die Stromproduktion des Kubelwerkes gesteigert werden. Letzteres liegt bei der Stadt St. Gallen und seine Ursprünge reichen zurück zur Gründung der Kubel AG im Jahr 1895. Baubeginn des Kubelwerkes war 1898, nur zwei Jahre später wurde es als erstes Hochdruckkraftwerk der Schweiz in Betrieb genommen. 1910 wurden alle Aktien des bisher privat geführten Kraftwerkes vom Kanton St. Gallen aufgekauft. Wiederum 4 Jahre später, also 1914, entstand die Idee, einen zusätzlichen Stausee – den Lanksee – in Appenzell Innerrhoden zu errichten, um so die Kapazität des Kubelwerks zu erhöhen. Aktiv involviert in das Projekt war die neu gegründete „Gesellschaft St. gallisch-appenzellische Kraftwerke“ (SAK). Jedoch weigerte sich die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Innerrhoden insgesamt dreimal, dem Projekt eine Konzession zu erteilen. Der Verlust des Kulturlandes wurde als schwerwiegender gewichtet als die möglichen Einnahmen aus den Wasserzinsen. Dass die SAK die Konzessionierung mithilfe der Bundesbehörden zu erzwingen versuchte, verstärkte die Abwehrhaltung der Appenzeller. Vorgehen und Auftreten der SAK wurde vielerorts als arrogant wahrgenommen.
Die Karikatur des Nebelspalters greift diese Sichtweise auf und stellt die Vertreter der SAK als dicke, reiche Männer dar. Sie tragen wuchtige Ringe an den Fingern, Zwicker auf den Nasen und sind in teuren Anzügen gekleidet. Erschrocken lesen sie die Appenzeller Konzessionsbedingungen, die ihnen ganz offensichtlich nicht gefallen. Der geplante Stausee ist spielzeughaft dargestellt. Er ähnelt  einem Teich, in ihm schwimmen Goldfische und es kreuzen kleine Schiffe darauf. Damit wird angedeutet, dass das ganze Projekt „Lanksee“ eine Art Spielzeug zum Vergnügen der SAK wäre,  während es für die Appenzeller bitteren Ernst darstellte. Auf der anderen Seite des Stausees sitzt ein ebensolcher Appenzeller. Sein einfaches Erscheinungsbild kontrastiert mit jenem der SAK-Vertreter. Seine unter dem Bild festgehaltene Aussage „Gellid ehr schtrohls Dönderli, das hani eu verläädet“ [„Na ihr kleinen Narren, damit habe ich euch die Lust/Freude genommen.“] illustriert den Widerstand der Appenzeller Bevölkerung. Auch das viele von der SAK angebotene Geld kann die sturen, jedoch in der Karikatur sympathischer dargestellten Appenzeller, nicht umstimmen. Trotz allen Geldes und rechtlichen Drucks bekam die SAK ihr Spielzeug nicht. Das Lanksee-Projekt wurde nie realisiert.

Wie die Urschner einem Grossprojekt den Garaus machten

Andermatter Protestschild gegen das Projekt von Urseren, fotografiert von Ernst Brunner, 1945/1946.

Karikatur zu den Krawallen von Andermatt, Schweizerische Allgemeine Volkszeitung Nr. 10 vom 09.03.1946.
Im Zweiten Weltkrieg manifestierte sich die energiepolitische Abhängigkeit der Schweiz vom Ausland.  Die Zeit schien günstig für die Planung neuer Wasserkraftgrossprojekte. Neue Kraftwerke versprachen nationale Energieautarkie . Nichtsdestotrotz war auch diese Phase der schweizerischen Energiegeschichte geprägt durch langwierige und mühsame Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Auf der Seite der Befürworter standen üblicherweise der Bund und die Elektrizitätsgesellschaften. Zu den Gegnern zählten in nahezu jedem Fall Privatpersonen. Die Position der Kantone und der betroffenen Gemeinden war je nach Projekt unterschiedlich. Teilweise sprachen sie sich klar für den Bau von Wasserkraftwerken aus, in anderen Fällen solidarisierten sie sich mit der betroffenen Bevölkerung, welche sich dagegen wehrte. Im Urserntal sorgte zwischen 1941 und 1946 ein Grossprojekt für hitzige Diskussionen und Propagandaschlachten. Das Projekt sah vor, das Urserntal und mit ihm die drei Dörfer Realp, Hospental und Andermatt zu fluten. Gegen dieses Vorhaben wehrten sich die betroffenen Gemeinden mit allen Mitteln. Auf dem von Ernst Brunner fotografierten Plakat wird die Argumentationsweise der Projektgegner deutlich. Während die Elektrizitätsgesellschaften mit ihrem Versorgungsauftrag und dem Ziel einer unabhängigen Schweiz argumentierten, bestritten die Gegner, dass die Flutung des Urserentals im Landesinteresse sei. Sie warfen den Elektrizitätsgesellschaften  „kapitalistische Habgier“ vor und verschoben den Fokus vom nationalen Allgemeinwohl hin zum lokalen. Die Nation forderten sie derweil auf, sich mit den Bewohnern des Urserentals zu solidarisieren: „Schweizer! Hilf auch du, unsere Heimat retten.“
Schliesslich kommt es im Februar 1946 zum Eklat. Die Karikatur aus der Schweizerischen Allgemeinen Volkszeitung zeigt die Vertreibung des Ingenieurs Karl Fetz, welcher als Architekt für die CKW (Centralschweizerische Kraftwerke) tätig war.  Fetz flieht über die Teufelsbrücke vor der tobenden Menge. Das Bild spielt mit dem felsigen Tal, den einfachen Waffen der Urschner und dem tosenden Fluss auf das Ursprüngliche und Wilde an. Die Kleidung des Architekten wirkt in dieser rauen Gegend fremd und unpassend. Die Aussage unterhalb des Bildes verweist darauf, dass die Urschner besser nicht verärgert werden sollten. Tatsächlich haben während den Krawallen von Andermatt rund 250 wütende Bürger den Ingenieur vertrieben und das Büro, in welches er sich eingemietet hatte, zerstört. Das Beispiel zeigt, dass sich ein solch grosses Projekt gegen den geschlossenen Widerstand der ansässigen Bevölkerung nicht durchsetzen kann. Als sich schliesslich auch die kantonale Regierung mit den Betroffenen solidarisiert, werden die Pläne definitiv verworfen.

Den Anschluss nicht verpassen: Die Atomkraft kommt in die Schweiz

Ausschnitt der Schweizer Filmwochenschau vom 01.02.1963 zu einer Ausstellung über Wasserkraft und Atomenergie der Bernischen Kraftwerke (BKW)
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte der Energieverbrauch, was sich auch bei der Elektrizität niederschlug. Der jährliche Elektrizitätsverbrauch der Schweiz stieg zwischen 1940 und 1970 von 11.1 TWh auf 177.8 TWh. Ein beträchtlicher Teil des Stroms wurde mit Hilfe neuer Grosskraftwerke produziert. Während vor dieser Phase noch vermehrt Flusskraftwerke gebaut worden waren, wurden nun riesige Staudammprojekte in den Alpen geplant und realisiert (z.B. Grande Dixence 1950 – 1964). Der vorliegende Ausschnitt aus der „Schweizer Filmwochenschau“ vom 01.02.1963 veranschaulicht den zunehmenden Pro-Kopf-Stromverbrauch in der Schweiz. Darauf aufbauend fordert er einen Ausbau der Wasserkraftinfrastruktur wie auch eine zivile Nutzung der Atomenergie. Die Atomenergie wird im Beitrag ästhetisiert und deren Nutzung als innovativ, ja gar futuristisch dargestellt.  Es gelte für die Schweiz, im technischen und wissenschaftlichen Bereich den internationalen Anschluss nicht zu verpassen. In den frühen 1960er Jahren wurde die Atomenergie noch kaum mit ihren Risiken und Gefahren in Verbindung gebracht. Im Gegenteil: Die Nutzung von Atomenergie galt in ihren Pionierjahren als umweltfreundlich, sogar als umweltfreundlicher als jene der Wasserkraft, die deutliche Spuren im Landschaftsbild hinterliess. Zwar handelte es sich bei dem im Bericht erwähnten Bau in Lucens erst um einen Versuchsreaktor und die praktischen Erfahrungen mit Atomenergie waren damals noch nicht abzusehen. Dennoch wurde die Atomenergie als Schlüssel zur künftigen Deckung des wachsenden Energiebedarfs inszeniert.
Im Januar 1969 ereignete sich aber ein nuklearer Unfall in Lucens. Das Brennelement 59 hatte sich zu stark erhitzt, worauf es zur Explosion in der Atomanlage kam. Obwohl der Unfall als einer der schwersten in der Geschichte der Atomenergie galt, blieben die Folgen minim. Die wirtschaftlichen Interessen an einem Kernkraftwerk aus eigenständiger, schweizerischer Produktion waren ohnehin bereits Jahre zuvor geschwunden. Das Interesse richtet sich nun auf die amerikanische Technologie. Etwa ein halbes Jahr nach dem Vorfall in Lucens gingen beim AKW Beznau 1 (Bauzeit: 1965 – 1969) die Lichter an und zwar in einem aus den USA importierten Reaktor. Mit den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre änderte sich die allgemeine Auffassung, dass die AKWs umweltfreundlicher als die Wasserkraftwerke seien. Der Fokus verschob sich vom Schutz der „heimatlichen Landschaft“ hin zu einem Konzept von Umweltschutz, das nicht mehr mit nationalen Kategorien operierte: So wurden die neuen AKWs und die entsprechenden Risiken bei der Energiegewinnung und der (ausgelagerten) Endlagerung immer stärker problematisiert. Diese Sichtweise und die etwas später einsetzende Kritik am klimaerwärmenden CO2-Ausstoss führten wieder zu einer neuen Perspektive auf die Nutzung der Wasserkraft. Diese erscheint plötzlich wieder als deutlich weniger umweltschädigend. Neue Grosskraftwerke entstanden deswegen gleichwohl keine.

Staumauer: moderner Energielieferant oder Umweltzerstörer?

Ausschnitt der „Schweizer Filmwochenschau“ vom 04.11.1966 zur Einweihung von Verzasca-Staudamm und Kraftwerk
Der Ausschnitt aus der Schweizer Filmwochenschau vom 04.11.1964 zeigt, wie der Bischof von Lugano, Angelo Jelmini, die neue Staumauer mit dem neuen Kraftwerk im Verzasca-Tal segnet und eröffnet. Die imposante Bogenmauer ist 220 Meter hoch und das Kraftwerk liefert 234 Millionen Kilowattstunden Strom. Für den Off-Sprecher reichte die Romantik des entlang der Mauer herunterstürzenden Wassers  fast an jene eines natürlichen Wasserfalls heran. Er fügt hinzu: “Ob dies die Naturfreunde darüber hinwegtröstet, dass das Tal verunstaltet und 160 Hektaren Land im Stausee versunken sind, ist eine andere Frage.” In diesem Votum spiegelt sich ein umweltschützerischer Diskurs der 1960er Jahre: Der Bedarf an Energie war seit den 1950er Jahren massiv angestiegen und verlangte nach immer mehr Wasserkraftwerken, die noch mehr Energie liefern würden.
Die Grossprojekte stellten aber auch massive Eingriffe in die Landschaft dar. Dies wurde von Seiten der Umweltschützer problematisiert. Die unberührte Natur gelte es unbedingt zu bewahren. So zeigt sich im Bericht das Spannungsverhältnis der 1960er Jahre, die einerseits von  Planungseuphorie, Fortschrittsoptimismus und Technikfaszinationen geprägt waren, andererseits aber auch eine neue Sensibilität für den Schutz der nationalen Natur brachten. Wenig Beachtung fanden in diesem Kräftefeld die von den Infrastrukturprojekten betroffenen Anwohner, die auch im vorliegenden Bericht nicht erwähnt werden. Erst in den 1970er Jahren bekamen die Rechte der Einzelpersonen mehr Gehör, der Fortschrittsoptimismus begann sich zunehmend zu legen und Projekte wie das Kraftwerk im Verzascatal waren immer schwieriger umzusetzen.

Stauseen: Natur pur

Der Gübsensee nahe der Stadt St. Gallen
Der Gigerwaldsee im Calfeisental
Betrachtet man die vergangenen Diskussionen um den Bau verschiedener Wasserkraftwerke in der Schweiz, stösst man immer wieder auf den Aspekt des Naturschutzes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Umgang mit Landschaft bzw. das Verständnis von Naturschutz pragmatisch. Natur diente dem Menschen als Lebensraum und Erwerbsquelle und erschien durch diese Zwecke schützenswert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts änderte sich dies. Natur wurde zu einem Selbstzweck jenseits der Nutzung durch Menschen: Eingriffe in die Natur sollten wegen der Natur selbst vermieden werden, nicht bloss, weil sie den Interessen einzelner Personen zuwiderliefen. Im Kontext der Nutzung des Gübsensees und der Entstehung des Gigerwaldsees zeigen sich diese unterschiedlichen Konzepte von Naturschutz. Der Gübsensee im Gübsenmoos bei St. Gallen entstand 1900 mit dem Bau des Kubelkraftwerkes. Vor Baubeginn argumentierten Anwohner mit dem Verlust der Heimat durch die Flutung des Wohngebietes, jedoch schien das Gübsenmoos noch nicht schützenswert gewesen zu sein. Dies kam erst 1928, als der Gübsensee zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Somit wurde im Falle des Gübsenmooses mit dem Eingriff in die Natur eine schützenwerte
Landschaft geschaffen, das Kraftwerk stand also nicht im Widerspruch zum Naturschutz, sondern schuf ihn erst. Beim Betrachten des Bildes ist dies durchaus verständlich. Mit den Bäumen, die den See säumen, wurde ein schönes Naherholungsgebiet erschaffen. Die Ausgangslage beim Gigerwaldsee war augenscheinlich eine andere: Das Kraftwerk wurde in den 1960er Jahren gebaut, als schon zahlreiche Kraftwerkprojekte an Widerstandsbewegungen gescheitert waren.  Der Gigerwaldsee liegt nicht in der Nähe eines Wohngebietes und somit wurde auch die Heimat der Projekt-Gegner nicht gefährdet.  Ihr Engagement entsprang vielmehr einem neuen Verständnis von Naturschutz. Sie forderten, dass das Kraftwerk erst realisiert werden dürfe, wenn die wilde Taminaschlucht und die wertvolle Taminaquelle ausreichend geschützt seien. Das Engagement führte dazu, dass die Taminaschlucht und der Gigerwaldsee auch heute Attraktionen darstellen, die sowohl von Anwohnern als auch von Touristen gerne besucht werden.
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Quellenverzeichnis

Staumauer Grande Dixence, fotografier von Philipp Schmidli, 04.10.2012, VBS/DDPS – ZEM. Online unter: https://www.mediathek.admin.ch/media/image/72a9f63a-41e1-490f-ad0f-d0a2c9c78695 (15.11.2019).

Hindernisse vor der Erleuchtung
[S.n.] (1915). Die ausgiebige Elektrifizierung des Schweizerlandes. Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung. 31(17). (S. 202-203) Online unter: http://dx.doi.org/10.5169/seals-580830 (07.08.2019). © baublatt

Unsere Kohle ist weiss!
Diggelmann, A. W. (1936). Elektrizität aus Wasserkraft, unser nationales Gut. Foto: Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung ZHdK. Online unter: ttps://www.emuseum.ch/objects/190428/elektrizitat-aus-wasserkraft-unser-nationales-gut (07.08.2019). Rechtsnachfolger konnte nicht eruiert werden.

Der Zwang zu regeln
Auszug aus dem Bundesgesetz 734.0 betreffend die elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen vom 24. Juni 1902 (Stand am 1. Januar 2018). Art. 1 – 3

Appenzell: Mit Elektrizitätsprojekten wird nicht gespielt! Nef, J. (1925). Lankseewerk Appenzell I. Rh. Nebelspalter vom 30.10.1925. Online unter: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1925:51#5279 (07.08.2019).

Wie die Urschner einem Grossporjekt den Garaus machten Ernst Brunner, SGV_12N_23957 © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. Online unter: https://archiv.sgv-sstp.ch/resource/446192 (07.08.2019). [S.n.]. (1946). Der Sturm im Urserental: Aktiver Wiederstand gegen das Urserenwerk. Schweizerischen Allgemeine Volkszeitung, Nr. 10 vom 09.03.1946. Online unter: https://scope.ur.ch/scopeQuery/detail.aspx?ID=85556 (07.08.2019). Rechteinhaber konnte nicht gefunden werden.

Den Anschluss nicht verpassen. Die Atomkraft kommt in die Schweiz «Wasserkraftwerke oder Atomkraftwerke?». Schweizer Filmwochenschau vom 01.02.1963. Online unter: https://www.memobase.ch/#document/SFW_CJS_CGS-SFW_1051-5 (07.08.2019). Filmmaterial: Cinémathèque suisse und Schweizerisches Bundesarchiv. Quelle: BAR J2.143#1996/386#1051-1#5*

Staumauer: Moderner Energielieferant oder Umweltzerstörer? «Eine neue Staumauer». Schweizer Filmwochenschau vom 04.11.1966. Online unter: https://www.memobase.ch/#document/SFW_CJS_CGS-SFW_1235-2 (07.08.2019). Filmmaterial: Cinémathèque suisse und Schweizerisches Bundesarchiv. Quelle: BAR J2.143#1996/386#1235-1#2*

Stauseen: Natur pur Gübsensee. Online unter: schweizersee.ch (07.08.2019). Gigerwaldsee. Online unter: schweizersee.ch (07.08.2019).

Sammelbibliographie

Cadonau, G.  (2018). Die Rettung der Greina – eine Chronik der Ereignisse. Online unter: https://www.greina-stiftung.ch/la-greina/buchtexte/die-rettung-der-greina-eine-chronik-der-ereignisse (07.08.2019).

Frey, F. (2019). Elektrizität aus dem Sittertobel. Das Kraftwerk Kubel als Produkt und Motor gesellschaftlicher Auseinandersetzungen (1890 – 1900). In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine Geschichte der St. Galler Gegenwart – Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 93 – 114). St. Gallen: VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen.

Frick, S. (1994). Eine Pionierzeit im Kanton St. Gallen und in der Ostschweiz. Bewährungsprobe für den freiheitlich-föderalistischen Kleinstaat. Politische Erinnerungen von Simon Frick. Rorschach: E. Löpfe-Benz AG, S. 138 – 161.

Gredig, H. – J.; Willi, W. (2006). Unter Strom. Wasser-Kraftwerke und Elektrifizierung in Graubünden 1879 – 2000. Chur: Bündner Monatsblatt, S. 197 – 253.

Gugerli, D. (1996). Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880 – 1914. Zürich: Chronos, S. 288 – 300.

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Kupper, P.; Pallua, I. (2016). Schlussbericht Energieregime in der Schweiz seit 1800. In Auftrag gegeben vom Bundesamt für Energie BFE, S. 36 – 54.

Schleifer, K. (2013). «Die Wasserkraft dem Volk! ». Der Kampf um den Bau des Elektrizitätswerks in Nidwalden in den 1930er-Jahren. In M. Gigase (Hrsg.) (u a.). Energie. Erzeugung, Verbreitung und Nutzung im 19. und 20. Jahrhundert. Traverse 2013/3 (S. 89–98). Zürich: Chronos.

St. Gallisch-Appenzellische Kraftwerke AG (SAK) (Hrsg.) (1989). Das Kraftwerk Kubel.

Die Autorinnen und Autoren

Andrea Stump Janick Boppart Florin Keller Fabienne Sandmeier

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