Geschlechtergeschichte

Geschichte des Heimwesens für Jugendliche in der Schweiz

Vertiefung: Das Mädchenheim «Zum Guten Hirten» in Altstätten

Die Entwicklung des Schweizer Heimwesens für Jugendliche lässt sich grob in drei Phasen unterteilen: Die im 19. Jahrhundert neu gegründeten Institutionen dienten mit dem Ziel, die Gesellschaft zu entlasten, zunächst als eine Art Asyle für Jugendliche aus armen Familien. Um die Wende zum 20. Jahrhunderte setzte die zweite Phase ein, in der – sowohl als Einweisungsgrund, als auch als Leitmotiv im Heim – der Erziehungsgedanke im Vordergrund stand. In Reaktion auf eine angeblich gesellschaftsbedrohende «Verwahrlosung» von Jugendlichen, versuchte man diesen in den Heimen konforme Verhaltensweisen zu lehren. Dabei lag der Fokus nach wie vor auf der Arbeitserziehung, bei jungen Frauen in der Vermittlung von Tätigkeiten im Haushalt, die sie auf ihre bürgerliche Rolle als Dienstmagd, Küchengehilfin oder – für den Fall eines sozialen Aufstiegs – Mutter und Hausfrau vorbereiten sollten.

Das Bild des arbeitenden Heimkindes hatte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand. Und auch die den Heimen zugrunde liegende Philosophie: Junge Menschen, welche (angeblich) die Gesellschaft gefährdeten, sollten aus dieser entfernt werden, um in einer «sicheren» Umgebung wieder gesellschaftsfähig gemacht zu werden. Untersuchungen zeigen jedoch, dass dieser Anspruch nicht wie gewünscht eingelöst werden konnte.
Der tatsächliche Übergang zu Bildungsanstalten und somit zur dritten Phase des Heimwesens erfolgte erst ab den 1960er Jahren. Zeitlich etwas nachgelagert kam es zu einer doppelten Hinwendung vom Kollektiv zum Individuum. So verschrieben sich die Heime im Nachgang der Heimkampagne der frühen 1970er Jahre immer weniger dem Schutz des gesellschaftlichen Kollektivs. Vielmehr lag der Fokus nun auf den jungen Individuen, die begleitet und unterstützt werden sollten. Dieser Paradigmenwechsel schlug sich in der konkreten Praxis in den Heimen nieder: Die Jugendlichen wurden hier nicht mehr als Kollektive bearbeitet. Vielmehr öffneten sich Spielräume für individuelle Entfaltung und Förderung. Damit einher ging auch ein Wandel von der Tabuisierung von Sexualität und Gewalt hin zu einem offeneren Umgang mit den delikaten Themen.

Erziehung von oben?

Anstalt zum Guten Hirten in Altstätten/SG, Luftbild 1949
Die abgebildete Luftaufnahme zeigt die Anstalt «Zum Guten Hirten» in Altstätten (SG), die 1868 von drei Frauen des Ordens «Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten» gegründet worden war. Die religiöse Institution beherbergte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts über 200 junge Frauen und wurde 1982 in Folge von fehlendem Schwesternnachwuchs und des Umschwungs des Meinungsklimas geschlossen.

Auf der Abbildung fallen die ländliche Umgebung inklusive heimeigener Obstplantagen und Gemüsefelder auf. Lage und Gestaltung des Heimareals verweisen auf zentrale Eigenheiten des schweizerischen Heimwesens bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

An ihrer Geschichte lassen sich verschiedene Entwicklungen des Schweizer Heimwesens für Jugendliche beispielhaft aufzeigen. Heime wurden meist in grossflächigen Arealen situiert, um so weitere Ausbauten vornehmen zu können. Die im Heim untergebrachten Mädchen konnten so durch den Tag mit Acker und Feldarbeit beschäftigt werden. Durch die sittliche Ordnung und die erzieherischen Massnahmen sollten die Mädchen zu fleissigen Arbeitskräften erzogen werden, um so zur gesellschaftlichen Überwindung der Armut beizutragen. Einer der wichtigsten Aspekte, welche beim Bau eines Erziehungsheimes beachtet werden musste, war die Abschottung. Die Mädchen sollten von der Aussenwelt «entfernt» werden, damit sie unter strenger Beobachtung der Ordensschwestern den Schmutz und die Not überwinden und zu ihrer neuen Identität finden konnten. Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Neueröffnung der Erziehungsanstalt, wurden vor allem Mädchen mit folgender «Diagnose» aufgenommen: «schulentlassene, normalbegabte gesunde Mädchen bis 20, die der erzieherischen Führung bedürfen (…)». Ende des 19. Jahrhunderts kam dann mit einer neuen Begründung die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen aus armen Verhältnissen dazu. Damit sollten Familien und Gemeinden kurz-, aber auch langfristig, ökonomisch entlastet werden. So war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Überzeugung verbreitet, Armut sei weitgehend selbstverschuldet. Entsprechend sollten durch die Heimarbeit die Jugendlichen zu fleissigen Arbeitskräften erzogen werden und damit zur gesellschaftlichen Überwindung der Armut beitragen. Im ausgehenden 19. / frühen 20. Jahrhundert kam es diesbezüglich aber zu einem Paradigmenwechsel, der die zweite Phase des modernen Heimwesens einläutete.

Neben die Bekämpfung der Armut trat nun vermehrt auch der Kampf gegen die sogenannte «Verwahrlosung» ins Zentrum der Bemühungen. Die Industrialisierung mit ihrer Folgeerscheinung der Massenarmut hatte dazu geführt, dass Armut nicht mehr einfach als individuell-moralisches Problem abgetan werden konnte. In einer Zeit der zunehmenden nationalistisch und eugenisch motivierten Sorge um die Stärke der eigenen Nation respektive die «Volksgesundheit» bildeten sich unter den bürgerlichen Eliten Ängste vor einer allgemeinen sittlichen Degeneration heraus. Die Industriegesellschaft mit ihren wachsenden Städten, in denen sich traditionelle bürgerliche Werte aufzulösen schienen, beförderte das Unbehagen. In diesem Rahmen entstand der Negativ-Topos der «gefährdeten Jugend»: Während bei jungen Frauen die Gefährdung mit einem unsteten Lebenswandel und sexueller Freizügigkeit bis hin zur Prostitution assoziiert wurde, galt bei männlichen Jugendlichen Kleinkriminalität als Ausdruck von Verwahrlosung. Die Fremdplatzierung in Heimen und Pflegefamilien versprach, diese Probleme zu lösen, und war zugleich als Rettung der «verlorenen Seelen» nobilitiert. Endgültig zum Schlüsselkonzept der Jugendfürsorge wurde die «Verwahrlosung» 1912, als das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) in Kraft trat. Das ZGB ermöglichte den Behörden im ganzen Land, Minderjährige präventiv fremdzuplatzieren, wenn Anzeichen einer Bedrohung bestünden. Entsprechend den neuen Einweisungsmotiven gewann in den Heimen der Erziehungsgedanke an Gewicht. Viele Institutionen wurden seit dem späten 19. Jahrhundert auf dem idealisierten Land gegründet, das scheinbar noch nicht verdorben war von den Verheerungen der Moderne.

Gebet und Arbeit

Waschküche des Magdalenenheims Zürich, 1900
In der Übergangszeit zur zweiten Phase um 1900 sind die Vorgänge in den Institutionen strikt geregelt. Mit strenger Disziplin wollte man aus den «Problemmädchen» rechtschaffene Frauen formen: einheitlich und gesittet wie die Kleidung, die sie alle tragen, sei es bei der Arbeit in der Waschküche, bei der Feldarbeit oder selbst beim Aufenthalt auf den Gemeinschaftszimmern. Individuelle und vor allem unerwünschte Charakterzüge sollen ausgemerzt und durch tugendhafte Eigenschaften des gesellschaftlich akzeptierten und gewünschten Bildes der idealen Frau ersetzt werden. Eine Stelle als Dienstmädchen oder Haushälterin soll verhindern, dass erneuter Sittenverfall die Gesellschaft bedroht. Die Mädchen arbeiten aber nicht nur für ihren eigenen Charakter, sondern vor allem auch für die Finanzierung des Heimes. Fremdaufträge für die Wäscherei entlasten das Budget enorm, und um die Arbeitskräfte im Soll zu halten, sind drakonische Strafen und nahezu militärischer Drill ebenso Alltagsgegenstand wie Einheitsrock und Waschbrett. Hier sei der Blick auf die Aufseherin gelenkt, die zweite Frau von links. Ihre strenge Pose, kombiniert mit der Tatsache, dass sie als einzige Frau den Blick erhoben hat, unterstreicht ihre Stellung als strenge Matriarchin der Heimfamilie.

Kritik am Heimwesen

Im Sommer 1970 wurde die Beschäftigung von Kindern in einer örtlichen Heimschule vom Zürcher Gemeinderat als Kinderarbeit und Ausbeutung eingestuft. Diese Kritik steht stellvertretend für eine aufkommende Liberalisierung der Heimkampagne der frühen 1970er Jahre: Verschiedene Individuen, aber auch Schweizer Medien, thematisierten Gewalt und Missbrauch in den Institutionen und kritisierten deren Erziehungsmethoden. Grundlage dafür war der gesellschaftliche Wandel in den späten 60er und frühen 70er Jahren, ausgelöst durch die 68er Bewegung, wurden grundlegende Ideen des Heimwesens überdacht. Kritik kam vor allem auf, dass die Anpassung an ein strenges Heimreglement in Isolation von der Gesellschaft kontraproduktiv zur eigentlichen Idee sei, die Jugendlichen im Heim auf den Wiedereintritt in die Gesellschaft vorzubereiten.
Auch die Arbeit, die seit jeher als das A und O der Erziehung galt, geriet in die Kritik. Einerseits wurden die Zöglinge oft in Berufen ausgebildet, für die in der Gesellschaft kaum noch oder gar kein Bedarf mehr bestand. Dies führte dazu, dass die Jugendlichen, nachdem sie das Heim verlassen hatten, wieder einen neuen Beruf erlernen mussten. Andererseits fehlte es den Heimen oft an geeignetem Personal. Junge, pädagogisch ausgebildete Fachkräfte gaben oft schon nach kurzer Zeit wieder auf, weil das «Anstalt-Establishment» sich jeglicher Reform grundsätzlich verschliesse. An ihre Stelle trat insbesondere bei der Arbeit mit schwer erziehbaren Jugendlichen oft Personal, dass sich mehr durch starke Muskeln auszeichnete als durch erzieherisches Talent. Mit dem zu erwartenden ausbleibenden Erfolg.
Kritischer Tagesschaubeitrag zu den Erziehungsanstalten in der Schweiz, September 1972

Pferdeposter und Hosen

Zimmer im Pestalozziheim Redlikon, 1986
Die dritte Phase des Heimwesens nach 1960 stand im Zeichen des Übergangs von Erziehungs- hin zu Bildungsanstalt und damit auch vom Kollektiv zum Individuum. Das Heimkind war nicht mehr das einheitlich gekleidete, alles im Kollektiv durchführende Mädchen, welches ins klassische Rollenbild gezwängte wurde. Die Mädchen trugen jetzt Hosen, Kurzhaarfrisuren und ihre Zimmer waren mit persönlichen Gegenständen geschmückt. Die «Familien», die grossen, von einer Ersatzmutter geführten Massenschläge, waren kleineren, privaten Zimmern gewichen. Poster, Zeichnungen und Fotos an den Wänden gaben den Mädchen nun ein Gefühl von Zuhause und entsprachen den individuellen Vorlieben der jeweiligen Heimbewohnerin. Es war sinnbildlich dafür, dass die Heimkinder nicht mehr durch den «Fleischwolf» der Erziehungsgewalt gedreht werden sollten, um am Ende einheitliche, konforme Frauen zu werden. In dieser Phase hatte das Heimkind Mitspracherecht, bekam eine individuelle Ausbildung und durfte sich nun auch auf Berufe konzentrieren, die insbesondere für weibliche Heimbewohnerinnen ausserhalb des Spektrums Hauswirtschaft oder Näherin lagen. Freizeit durfte nun selbst gestaltet werden, wenn auch natürlich immer noch beschränkt auf das, was die Gesellschaft für angebracht und sinnvoll hielt.

«Ich muss lernen, meine Fantasie zu zügeln […]» – Eine Frau, deren Leben Geschichte schrieb

Uschi Waser, ehemaliges Heimkind
Uschi Waser kam am 13. Dezember 1953 als Angehörige einer Minderheit (Jenische) zur Welt, weshalb sie auch Opfer der Aktion «Kinder der Landstrasse» wurde. In den ersten 13 Jahren ihres Lebens wurde sie in 26 Anstalten oder Pflegefamilien untergebracht. Im Dezember 1966, als sie 14 Jahre alt war, kam sie dann ins Heim «Zum Guten Hirten» in Altstätten und blieb dort bis April 1971.
In dieser Interview-Sequenz erzählt Uschi Waser über allgemeine Heiminformationen zum «Guten Hirten» in Altstätten. Welche Erinnerungen werden in ihr wach, wenn sie an diese Zeit zurückdenkt? Wie alt war sie damals während dem Heimaufenthalt? Wieso kam sie dorthin und aus welchem Grund wurde sie erneut entlassen?

 

Der Fokus in diesen beiden Sequenzen liegt auf dem Thema Gewalt im Heim. Stimmen diese Informationen, welche im Überblickstext zum Heim «Zum Guten Hirten» stehen? Hat Frau Waser Gewalt zu spüren bekommen? Um welche Arten von Gewalt handelte es sich dabei und wie bizarr waren diese?

 

Frau Waser erzählt, in welcher Form Kontrollen durchgeführt wurden, wie intensiv und verletzend diese waren. Kannte sie Ordensschwestern, welche in einer heimlichen Beziehung mit den Mädchen waren? Hatte sie Freundinnen, welche in einer Beziehung waren?

 

In diesem Ausschnitt blickt Frau Waser auf die Zeit kurz nach ihrem Heimaustritt zurück. Was war das für ein Gefühl, als sie das Heim nach so langer Zeit endlich verlassen konnte? Was waren ihre Ängste und wurde sie im Heim auf die Zeit nach dem Heim vorbereitet?

 

Die Übergangsphase nach dem Heim war geprägt von verschiedenen gesellschaftlichen Ansprüchen. Es wurde erwartet, dass sie selbstständig wohnt, eine Familie gründet und dass ihr der Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingt. Verspürte sie in dieser Hinsicht einen Druck? Wie sind ihr diese Schritte schlussendlich gelungen? Erhielt sie dabei Unterstützung durch gewisse Leute aus dem Heim?

 

Ein solcher Heimaufenthalt hinterlässt langfristige Spuren. Einer Grosszahl der Menschen, die ihre Kindheit im Heim verbrachten, fiel es später schwer, stabile soziale Bindungen einzugehen. Darüber hinaus kam es häufig vor, dass ehemalige Heimkinder das Gefühl verspürten, sich beweisen zu müssen, und sich so einem permanenten Leistungsdruck aussetzten. Welche Spuren verfolgten sie noch Jahre lang? Kennt sie auch Leute, die Positives aus ihrer Zeit im Heim erzählen?

«Ich habe mich nie gerne eingeordnet oder untergeordnet. Das hat mir immer Probleme bereitet.»

Denise Wipfli in Kinderheime Schweiz – Historische Aufarbeitung, 2011
Denise Wipfli erzählt ihre Lebensgeschichte auf sehr reflektierende Weise und schildert ihren Werdegang von ihrer Zeit in den verschiedenen Heimen bis hin zum Aufenthalt in der Stiftung Longo Mai, wo sie die zutreffendste Lebensform gefunden hat. Sie wuchs in verschiedenen Heimen auf. Der Grund für ihre Heimplatzierung war ihre Geburt in unehelichen Verhältnissen. Ihr Vater ist ihr bis heute unbekannt. Denise wurde nach etlichen Problemen bezüglich Klauen in das von Nonnen geführte, katholische «Mädchenheim –
Erziehungsheim» in Altstätten, Kanton St. Gallen versetzt (Zum Guten Hirten). Denise Wipfli erfuhr vor allem in der katholischen Erziehungsanstalt, in welches sie Ende der 1960er Jahre versetzt wurde, extremen Zwang, Überwachung und Kontrolle. Frömmigkeit wurde als Erziehungsmittel verwendet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderst wurden Schützlinge rund um die Uhr kontrolliert, sogar im Schlafsaal war immer eine Schwester dabei, um sexuelle (Selbst-) Praktiken zu verhindern. Auch die Briefe an die Heimbewohnerinnen wurden kontrolliert und teilweise zerrissen, bevor sie ihre Adressatinnen erreichen konnten. Körperliche Bestrafungen waren gemäss den Ordensregeln verboten und auch schriftliche wie mündliche Berichte weisen nicht auf solche hin. Es gab jedoch ein sogenanntes «Besinnungszimmer», das bei Fehlverhalten als eine Art Gefängnis genutzt wurde. Das autoritäre Regime hielt im «Guten Hirten» lange an:  T., eine Heimbewohnerin von 1965 bis 1970, erzählte in der Rückschau: «Es herrschte absolute Strenge, es gab viele Zwänge. Alles war geschlossen, nie durfte man alleine fort. Rauchen, Schminken, Hosen tragen, alles war verboten. (…) Es gab Einschränkungen überall.» Besonders lange herrschte Tabuisierung betreffend der Themen «Sexualität» und «Beziehungen». Noch 1970 versuchte das Heim, die jungen Frauen vor den «moralischen Niederungen» der Sexualität zu bewahren: Körperkontakt war untersagt, Kontakte zu Männern verschiedenen Alters so gut als möglich verhindert: Bei der Arbeit auf dem Feld war immer eine Schwester dabei, welche die jungen Frauen «behütete» und «beschützte».
In dieser Zeit besass man keinen eigenen Fernseher, es gab einen Raum mit einem gemeinsamen Fernseher. Es wurden beispielsweise Heidi-Filme geschaut, welche jedoch stark zensiert wurden. Sobald eine Szene mit sexuellem Inhalt kam, wurde sofort vorgespult oder die Mädchen mussten wegschauen. Es sollten keine Vorstellungen provoziert werden wie z.B Freundschaften oder sexuelle Beziehungen mit dem «landwirtschaftlichen Personal» oder mit jungen Männern des Ortes. Ausgeblendet wurden homosexuelle Verhältnisse unter Heimbewohnerinnen oder zwischen den Ordensschwestern und den jungen Frauen. Berichte ehemaliger Heimbewohnerinnen weisen aber darauf hin, dass es solche durchaus gegeben hat und dass hinter vorgehaltener Hand auch darüber gesprochen wurde.

Als sie endlich ihre Ausbildung beginnen durfte, veränderte sich ihr Leben um einiges. Denise lebte unter ständiger Angst einer Rückplatzierung ins Heim und kämpfte um das «sittlich» angesehene Leben. Sie wollte unabhängig von ihrer Vormundschaft werden. Im Alter von 20 Jahren, nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung, war sie endlich frei. Nun hat sie zwei Kinder und ist verheiratet. Selbst die Heirat war eine gesellschaftlich erzwungene Handlung, da sie in Angst lebte, ihre Kinder könnten ihr von der Vormundschaft weggenommen werden.

Heimweh

Hier geht es zum Interview mit Sergio Devecchi

Sergio Devecchi in einem Interview in der Sendung «Äschbacher» des Schweizer Fernsehens, 21. September 2010
Sergio Devecchi wurde im Jahr 1947 in Lugano geboren. Im Alter von zehn Tagen wurde er als unehelich geborenes Kind in einem Heim untergebracht. Nachdem er das Heim verlassen durfte, begann er mit seiner KV-Lehre. Doch das Leben im Heim liess ihn nicht los, denn es war das einzige Leben, das er kannte. Dies war sein Zuhause.

So kam es, dass er zuerst als Praktikant in das Heimwesen zurückkehrte, dann seine Ausbildung zum Sozialpädagogen antrat und danach vom Erzieher über den Team- und Heimleiter bis zum Präsidenten des Schweizerischen Fachverbandes für Sozial- und Sonderpädagogik wurde. Niemand hatte Kenntnis von seiner Heimvergangenheit. Erst wenige Tage vor seiner Pension kam dann das Outing.

 

Mittlerweile ist er der Meinung, dass die Heim- und Verdingkinder aus den 40er, 50er, 60er und  70er Jahre mehr Aufmerksamkeit verdienen und dass dieses Thema mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerufen werden muss. Nicht nur in seiner Biographie “Heimweh. Vom Heimbub zum Heimleiter” erzählt er offen über seine Vergangenheit.

Im Jahre 2017 äussert sich Sergio Devecchi in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen SRF. Dabei erzählt er unter anderem über die dunklen Seiten des Heimlebens und darüber, weshalb er Heimleiter geworden war. Zudem erläutert er, weshalb er seiner eigenen Geschichte nicht selber nachgehen konnte.

5:28 – 6:35
In dieser Sequenz spricht Sergio Devecchi über das Verhältnis zu seinen Eltern und darüber, wie das Thema „Familie“ im Heim tabu war.

9:08 – 10:22
Hier beantwortet Sergio Devecchi die Frage, was für ihn das Schlimmste am Heimleben war.

11:40 – 12:18
Sergio Devecchi erzählt, wie er von heute auf morgen ohne weitere Erklärung aus dem Heim genommen wird.

13:43 – 14:50
Sergio Devecchi geht auf die Frage ein, weshalb er Heimleiter geworden ist.

15:15 – 17:05
Sergio Devecchi sagt, dass er zwar kein Heimmissionar werden wollte, aber trotzdem bestimmte Dinge intuitiv anders machte.

19:25 – 21:15
Weshalb konnte er so lange für sich behalten, dass er selbst ein Heimkind war?

25:30 – 27:05
In diesem Teil des Interviews spricht Sergio Devecchi darüber, weshalb er seiner eigenen Geschichte nicht selber nachgehen konnte.

 

Quellenverzeichnis

Titelbild
Waschtag. Magdalenenheim Zürich, um 1900. Foto: Stiftung Hirslanden Sozialpädagogisches Zentrum für junge Frauen.

Erziehung von oben
Friedli, W. (16.09.1949). Altstätten, Altstätten, Anstalt vom Guten Hirten (Fürsorge- und Erziehungsheim) mit Kirche. In ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / LBS_H1-012655 / CC BY-SA 4.0. Online unter: https://www.e-pics.ethz.ch/index/ethbib.bildarchiv/ETHBIB.Bildarchiv_LBS_H1-012655_525929.html (22.05.2020).

Gebet und Arbeit
Waschtag. Magdalenenheim Zürich, um 1900. Foto: Stiftung Hirslanden Sozialpädagogisches Zentrum für junge Frauen.

Kritik am Heimwesen
Schweizer Fernsehen (September 1972). Kritik an Erziehungsanstalten. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=ba3mJLJkRII (03.11.2020).

Pferdeposter und Hosen
o. A. (1986). Zimmer im Pestalozziheim Redlikon. In Archiv des Schulinternats Redlikon.

Interview mit Uschi Waser
Waser, U. (29.02.2020). Interview, durch Kürsteiner, D., & Öztürk, A. Holderbank.

Interview mit Denise Wipfli-Varisco
Wipfli-Varisco, D. (11.02.2011). Interview. In Kinderheime in der Schweiz. Historische Aufarbeitung. Online unter: https://www.kinderheime-schweiz.ch/de/kinderheime_schweiz_video_detail.php?vid=53 (22.05.2020).

Interview mit Sergio Devecchi
Devecchi, S. (26.04.2017). «Heimweh. Vom Heimbub zum Heimleiter.» In Tagesgespräch. Online unter: https://www.srf.ch/play/radio/tagesgespraech/audio/sergio-devecchi-heimweh–vom-heimbub-zum-heimleiter-?id=054fcd1b-9b94-49ca-bbf2-b18d89c212b2 (18.12.2019).

Sammelbibliographie
Bombach, C., Gabriel, T. & Keller, S. (2018). «Legitimieren» und «integrieren». Die Auswirkungen von Heimerfahrungen auf den weiteren Lebensverlauf. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 253–272). Zürich: Chronos.

Bombach, C., Bossert, M., Gabriel, T. & Keller, S. (2018). Übergänge ins Leben nach der Heimerziehung. Individuelle und professionelle Perspektiven. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 287–306). Zürich: Chronos.

Bossert, M. & Hauss G. (2018). Die sukzessive Durchsetzung bürgerlicher Kindheitsmuster im Fachdiskurs Heimerziehung. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 307–321). Zürich: Chronos.

Eigenmann, D. (2019). Die «sittlich gefährdeten» Mädchen vom Wienerberg. Eine Geschlechtergeschichte anhand des Mädchenheims Wienerberg in St. Gallen (1888-1974). In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 43–70). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St.Gallen.

Gabriel, T. (2018). Heimerziehung. Effekte auf den Lebenslauf. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (247–252). Zürich: Chronos.

Hauss, G. (2018). Heimerziehung in der Schweiz. Denkfiguren und Entwicklungslinien. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 141–156). Zürich: Chronos.

Hauss, G. (2018). Kindheit im Fokus von Staat, normativer Erziehung und fachlicher Expertise. Zusammenfassende Überlegungen. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 339–346). Zürich: Chronos.

Hochuli Freund, U. (1999). Heimerziehung von Mädchen im Blickfeld. Untersuchung zur geschlechtergemischten Heimerziehung im 19. Und 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz. Frankfurt a. M.: Europäischer Verlag der Wissenschaften.

Lengwiler, M. & Praz, A.-F. (2018). Kinder- und Jugendfürsorge in der Schweiz. Entstehung, Implementierung und Entwicklung (1900–1980). Hauss, G. (2018). Heimerziehung in der Schweiz. Denkfiguren und Entwicklungslinien (S. 29–52). Zürich: Chronos.

Tanner, H. (2006). Erziehungsheime. In Historisches Lexikon der Schweiz. Online unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027150/2006-05-29/ (22.05.2020).

Die Autorin und die Autoren

Aylin Öztürk

David Kürsteiner

Manuel Cozzio

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