Geschlechtergeschichte
Geschichte des Heimwesens für Jugendliche in der Schweiz
Vertiefung: Das Mädchenheim «Zum Guten Hirten» in Altstätten
Das Bild des arbeitenden Heimkindes hatte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand. Und auch die den Heimen zugrunde liegende Philosophie: Junge Menschen, welche (angeblich) die Gesellschaft gefährdeten, sollten aus dieser entfernt werden, um in einer «sicheren» Umgebung wieder gesellschaftsfähig gemacht zu werden. Untersuchungen zeigen jedoch, dass dieser Anspruch nicht wie gewünscht eingelöst werden konnte.
Der tatsächliche Übergang zu Bildungsanstalten und somit zur dritten Phase des Heimwesens erfolgte erst ab den 1960er Jahren. Zeitlich etwas nachgelagert kam es zu einer doppelten Hinwendung vom Kollektiv zum Individuum. So verschrieben sich die Heime im Nachgang der Heimkampagne der frühen 1970er Jahre immer weniger dem Schutz des gesellschaftlichen Kollektivs. Vielmehr lag der Fokus nun auf den jungen Individuen, die begleitet und unterstützt werden sollten. Dieser Paradigmenwechsel schlug sich in der konkreten Praxis in den Heimen nieder: Die Jugendlichen wurden hier nicht mehr als Kollektive bearbeitet. Vielmehr öffneten sich Spielräume für individuelle Entfaltung und Förderung. Damit einher ging auch ein Wandel von der Tabuisierung von Sexualität und Gewalt hin zu einem offeneren Umgang mit den delikaten Themen.
Erziehung von oben?
Auf der Abbildung fallen die ländliche Umgebung inklusive heimeigener Obstplantagen und Gemüsefelder auf. Lage und Gestaltung des Heimareals verweisen auf zentrale Eigenheiten des schweizerischen Heimwesens bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Neben die Bekämpfung der Armut trat nun vermehrt auch der Kampf gegen die sogenannte «Verwahrlosung» ins Zentrum der Bemühungen. Die Industrialisierung mit ihrer Folgeerscheinung der Massenarmut hatte dazu geführt, dass Armut nicht mehr einfach als individuell-moralisches Problem abgetan werden konnte. In einer Zeit der zunehmenden nationalistisch und eugenisch motivierten Sorge um die Stärke der eigenen Nation respektive die «Volksgesundheit» bildeten sich unter den bürgerlichen Eliten Ängste vor einer allgemeinen sittlichen Degeneration heraus. Die Industriegesellschaft mit ihren wachsenden Städten, in denen sich traditionelle bürgerliche Werte aufzulösen schienen, beförderte das Unbehagen. In diesem Rahmen entstand der Negativ-Topos der «gefährdeten Jugend»: Während bei jungen Frauen die Gefährdung mit einem unsteten Lebenswandel und sexueller Freizügigkeit bis hin zur Prostitution assoziiert wurde, galt bei männlichen Jugendlichen Kleinkriminalität als Ausdruck von Verwahrlosung. Die Fremdplatzierung in Heimen und Pflegefamilien versprach, diese Probleme zu lösen, und war zugleich als Rettung der «verlorenen Seelen» nobilitiert. Endgültig zum Schlüsselkonzept der Jugendfürsorge wurde die «Verwahrlosung» 1912, als das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) in Kraft trat. Das ZGB ermöglichte den Behörden im ganzen Land, Minderjährige präventiv fremdzuplatzieren, wenn Anzeichen einer Bedrohung bestünden. Entsprechend den neuen Einweisungsmotiven gewann in den Heimen der Erziehungsgedanke an Gewicht. Viele Institutionen wurden seit dem späten 19. Jahrhundert auf dem idealisierten Land gegründet, das scheinbar noch nicht verdorben war von den Verheerungen der Moderne.
Gebet und Arbeit
Kritik am Heimwesen
Pferdeposter und Hosen

«Ich muss lernen, meine Fantasie zu zügeln […]» – Eine Frau, deren Leben Geschichte schrieb

«Ich habe mich nie gerne eingeordnet oder untergeordnet. Das hat mir immer Probleme bereitet.»
In dieser Zeit besass man keinen eigenen Fernseher, es gab einen Raum mit einem gemeinsamen Fernseher. Es wurden beispielsweise Heidi-Filme geschaut, welche jedoch stark zensiert wurden. Sobald eine Szene mit sexuellem Inhalt kam, wurde sofort vorgespult oder die Mädchen mussten wegschauen. Es sollten keine Vorstellungen provoziert werden wie z.B Freundschaften oder sexuelle Beziehungen mit dem «landwirtschaftlichen Personal» oder mit jungen Männern des Ortes. Ausgeblendet wurden homosexuelle Verhältnisse unter Heimbewohnerinnen oder zwischen den Ordensschwestern und den jungen Frauen. Berichte ehemaliger Heimbewohnerinnen weisen aber darauf hin, dass es solche durchaus gegeben hat und dass hinter vorgehaltener Hand auch darüber gesprochen wurde.
Als sie endlich ihre Ausbildung beginnen durfte, veränderte sich ihr Leben um einiges. Denise lebte unter ständiger Angst einer Rückplatzierung ins Heim und kämpfte um das «sittlich» angesehene Leben. Sie wollte unabhängig von ihrer Vormundschaft werden. Im Alter von 20 Jahren, nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung, war sie endlich frei. Nun hat sie zwei Kinder und ist verheiratet. Selbst die Heirat war eine gesellschaftlich erzwungene Handlung, da sie in Angst lebte, ihre Kinder könnten ihr von der Vormundschaft weggenommen werden.
Heimweh
Hier geht es zum Interview mit Sergio Devecchi
So kam es, dass er zuerst als Praktikant in das Heimwesen zurückkehrte, dann seine Ausbildung zum Sozialpädagogen antrat und danach vom Erzieher über den Team- und Heimleiter bis zum Präsidenten des Schweizerischen Fachverbandes für Sozial- und Sonderpädagogik wurde. Niemand hatte Kenntnis von seiner Heimvergangenheit. Erst wenige Tage vor seiner Pension kam dann das Outing.
Im Jahre 2017 äussert sich Sergio Devecchi in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen SRF. Dabei erzählt er unter anderem über die dunklen Seiten des Heimlebens und darüber, weshalb er Heimleiter geworden war. Zudem erläutert er, weshalb er seiner eigenen Geschichte nicht selber nachgehen konnte.
In dieser Sequenz spricht Sergio Devecchi über das Verhältnis zu seinen Eltern und darüber, wie das Thema „Familie“ im Heim tabu war.
9:08 – 10:22
Hier beantwortet Sergio Devecchi die Frage, was für ihn das Schlimmste am Heimleben war.
11:40 – 12:18
Sergio Devecchi erzählt, wie er von heute auf morgen ohne weitere Erklärung aus dem Heim genommen wird.
13:43 – 14:50
Sergio Devecchi geht auf die Frage ein, weshalb er Heimleiter geworden ist.
15:15 – 17:05
Sergio Devecchi sagt, dass er zwar kein Heimmissionar werden wollte, aber trotzdem bestimmte Dinge intuitiv anders machte.
19:25 – 21:15
Weshalb konnte er so lange für sich behalten, dass er selbst ein Heimkind war?
25:30 – 27:05
In diesem Teil des Interviews spricht Sergio Devecchi darüber, weshalb er seiner eigenen Geschichte nicht selber nachgehen konnte.
Quellenverzeichnis
Titelbild
Waschtag. Magdalenenheim Zürich, um 1900. Foto: Stiftung Hirslanden Sozialpädagogisches Zentrum für junge Frauen.
Erziehung von oben
Friedli, W. (16.09.1949). Altstätten, Altstätten, Anstalt vom Guten Hirten (Fürsorge- und Erziehungsheim) mit Kirche. In ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / LBS_H1-012655 / CC BY-SA 4.0. Online unter: https://www.e-pics.ethz.ch/index/ethbib.bildarchiv/ETHBIB.Bildarchiv_LBS_H1-012655_525929.html (22.05.2020).
Gebet und Arbeit
Waschtag. Magdalenenheim Zürich, um 1900. Foto: Stiftung Hirslanden Sozialpädagogisches Zentrum für junge Frauen.
Kritik am Heimwesen
Schweizer Fernsehen (September 1972). Kritik an Erziehungsanstalten. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=ba3mJLJkRII (03.11.2020).
Pferdeposter und Hosen
o. A. (1986). Zimmer im Pestalozziheim Redlikon. In Archiv des Schulinternats Redlikon.
Interview mit Uschi Waser
Waser, U. (29.02.2020). Interview, durch Kürsteiner, D., & Öztürk, A. Holderbank.
Interview mit Denise Wipfli-Varisco
Wipfli-Varisco, D. (11.02.2011). Interview. In Kinderheime in der Schweiz. Historische Aufarbeitung. Online unter: https://www.kinderheime-schweiz.ch/de/kinderheime_schweiz_video_detail.php?vid=53 (22.05.2020).
Interview mit Sergio Devecchi
Devecchi, S. (26.04.2017). «Heimweh. Vom Heimbub zum Heimleiter.» In Tagesgespräch. Online unter: https://www.srf.ch/play/radio/tagesgespraech/audio/sergio-devecchi-heimweh–vom-heimbub-zum-heimleiter-?id=054fcd1b-9b94-49ca-bbf2-b18d89c212b2 (18.12.2019).
Sammelbibliographie
Bombach, C., Bossert, M., Gabriel, T. & Keller, S. (2018). Übergänge ins Leben nach der Heimerziehung. Individuelle und professionelle Perspektiven. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 287–306). Zürich: Chronos.
Bossert, M. & Hauss G. (2018). Die sukzessive Durchsetzung bürgerlicher Kindheitsmuster im Fachdiskurs Heimerziehung. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 307–321). Zürich: Chronos.
Eigenmann, D. (2019). Die «sittlich gefährdeten» Mädchen vom Wienerberg. Eine Geschlechtergeschichte anhand des Mädchenheims Wienerberg in St. Gallen (1888-1974). In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 43–70). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St.Gallen.
Gabriel, T. (2018). Heimerziehung. Effekte auf den Lebenslauf. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (247–252). Zürich: Chronos.
Hauss, G. (2018). Heimerziehung in der Schweiz. Denkfiguren und Entwicklungslinien. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 141–156). Zürich: Chronos.
Hauss, G. (2018). Kindheit im Fokus von Staat, normativer Erziehung und fachlicher Expertise. Zusammenfassende Überlegungen. In Hauss, G., Gabriel, T. & Lengwiler, M. (Hrsg.). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 (S. 339–346). Zürich: Chronos.
Hochuli Freund, U. (1999). Heimerziehung von Mädchen im Blickfeld. Untersuchung zur geschlechtergemischten Heimerziehung im 19. Und 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz. Frankfurt a. M.: Europäischer Verlag der Wissenschaften.
Lengwiler, M. & Praz, A.-F. (2018). Kinder- und Jugendfürsorge in der Schweiz. Entstehung, Implementierung und Entwicklung (1900–1980). Hauss, G. (2018). Heimerziehung in der Schweiz. Denkfiguren und Entwicklungslinien (S. 29–52). Zürich: Chronos.
Tanner, H. (2006). Erziehungsheime. In Historisches Lexikon der Schweiz. Online unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027150/2006-05-29/ (22.05.2020).
Die Autorin und die Autoren
David Kürsteiner
Manuel Cozzio