Migration
Heimatlosigkeit im 19. Jahrhundert
Vertiefung: Die Situation nach dem Heimatlosengesetz von 1850
Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wurde in der Schweizerischen Eidgenossenschaft das Phänomen der «Heimatlosigkeit» vermehrt als Problem wahrgenommen. Das Fehlen von Kontrollorganen wie zum Beispiel klar strukturierten Bürgerbüchern, einheitlichen Gesetzen, aber auch der Mangel an Kooperation zwischen den Kleinstaaten erschwerte das Problem. Die Heimatlosen waren mit Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es erste Bestrebungen zur Integration der diskriminierten und unwillkommenen Heimatlosen. Lösungen zwischen den souveränen Orten scheiterten jedoch in der als loser Staatenbund konstituierten Schweizerischen Eidgenossenschaft. Erst mit der Bildung des modernen Bundesstaates im Jahre 1848, der sich als Nationalstaat verstand, konnte eine überkantonale Lösung avisiert werden. Der Bund besass nun die Möglichkeit, überkantonale Kontroll- und Überwachungsinstrumente einzuführen und durchzusetzen. Auf dem Gesetzesweg wurde so 1850 die Heimatlosigkeit beseitigt. Allerdings sahen sich die einstigen Heimatlosen mit neuen und zugleich altbekannten Diskriminierungen konfrontiert. Die rechtliche (Zwangs-)Integration stand in einem Spannungsverhältnis mit den damit einhergehenden, sich auf bürgerliche Moralvorstellungen stützenden bevölkerungspolitischen Kontrollansprüchen gegenüber den ehemaligen Heimatlosen.
Lebenswandel als Vergehen
Die Ursachen für die Entstehung heimatloser Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft reichen ins frühe 17. Jahrhundert zurück. Mittellosigkeit, Dienstpflichtverweigerung, Konfessionszugehörigkeit, Arbeitslosigkeit und unerlaubte Eheschliessungen konnten dazu führen, dass den Betroffenen sowohl das Bürger- als auch das Niederlassungsrecht entzogen wurde. Sie waren auf die Duldung durch den jeweiligen eidgenössischen Ort angewiesen und da sie verarmten, bestand auch keine Hoffnung auf den Erwerb eines neuen Bürgerrechts. Der Ausschluss aus der Gesellschaft machte sie zu Unerwünschten, welche aufgrund der fehlenden Kooperation zwischen den einzelnen Orten der Eidgenossenschaft hin- und hergeschoben wurden.
Die Moralvorstellung der sesshaften Bevölkerung kollidierte mit der den Heimatlosen durch ihre Lebensumstände aufgezwungenen Lebensweise. Diese wurde als verwerflich und unerwünscht konnotiert. Ein festes Einkommen war durch das Fehlen des Bürgerrechts und der damit verbundenen beschränkten Arbeitsmöglichkeiten kaum zu erwirtschaften. Auf Unterstützung konnten sie nicht zählen und das Betteln als wichtige Einnahmequelle wurde erschwert. Nach damaligen Verständnis wurde die Armut der Heimatlosen als selbstverschuldet und als Ausdruck einer angeblichen moralischen «Insuffizienz» angesehen.
Wie stark Heimatlose von moralischen Zuschreibungen betroffen waren, zeigt das Beispiel von Joseph Twerenbold. Der 22-jährige entwich, wie diesem Steckbrief zu entnehmen ist, am 20. Juni 1823 aus dem Zuchthaus, als er in der Öffentlichkeit Arbeit verrichten musste. Am 16. Mai 1823 war er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Was waren seine Vergehen? Ihm wurden «Paternalitätsvergehen» sowie «Vagabundismus» vorgeworfen. Mit der Zeugung eines oder mehrerer unehelicher Kinder sowie seiner Nichtsesshaftigkeit wurde ihm ein nach bürgerlichen Massstäben «unsittlicher» Lebenswandel vorgeworfen. Ein solcher wurde nicht toleriert. Er wurde gar kriminalisiert, und konnte somit zur rechtlichen Verfolgung führen. In diesem Sinne wurde das Zuchhaus als moralische «Besserungsanstalt» verstanden.
Steckbriefe, die meist nur Name, Vorname und einige wenige Informationen zu einer gesuchten Person enthielten, wurden als «Jaunerlisten» ab Beginn des 19. Jahrhunderts als Fahndungsmittel auch in der Schweiz eingesetzt, um die Suche nach Heimatlosen und Gaunern effizienter zu gestalten. Weil aber Flugblätter oft zu schnell verloren gingen, beschloss die Eidgenössische Tagsatzung, die Versammlung der Abgesandten aller eidgenössischen Orte, die «Allgemeinen Signalement-Bücher der Schweizerischen Eidgenossenschaft» auf Bögen zu drucken oder in Heften zu verwahren. In Folge dessen wurde der Berner Kriminalaktuar Jakob Emanuel Roschi damit beauftragt, ein «Signalment-Buch» für die Eidgenossenschaft anzufertigen, um alle Landesverweisungen, Steckbriefe und Warnungen vor Verdächtigen zu einem Dokument zusammenzuführen. Auch dieser Steckbrief stammt aus einem solchen Signalment-Buch. Obwohl immer mehr und genauere Informationen auf die «Jaunerlisten» gedruckt wurden, konnten beschuldigte Personen nicht immer erkannt werden. Daher lösten die gestochenen Porträts und die Fotografien die Aufgabe der Steckbriefe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab.
Unrealistische Fotografie

Fahndungsportrait des dreissigjährigen Heimatlosen Johannes Nater aus dem Jahr 1852
Die mit Steckbriefen belegten Signalment-Bücher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden 1852 durch Fahndungsfotografien von Carl Durheim abgelöst. Seine Fotografien zeigen auf, wie die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts den Heimatlosen begegnete. Das Fehlen des Bürgerrechts war für die Heimatlosenbevölkerung viel mehr als nur ein rechtlicher Zustand. Ihr fehlendes Recht hatte seit dem 16. Jahrhundert Armut, sozialen Ausschluss und den Zwang einer nicht-sesshaften Lebensweise zur Folge. Das im Jahr 1850 eingeführte Heimatlosengesetz, sollte die Situation der fahrenden Bevölkerung ändern, indem es ein primäres Ziel verfolgte: Die (zwangsweise) Integration der Heimatlosen durch Kontrolle und Assimilation der neu eingebürgerten Personen.
Um die unerwünschte Mobilität im Rahmen des Integrations- und Assimilationsvorgehen zu kontrollieren, reichten die Steckbriefe der Personen nicht mehr aus. Daher machten sich die Behörden die Technik der Fotografie zunutze. Die Fotografien sollten dem Zweck dienen, die Ermittlungen zu beschleunigen, die Identifizierung der Verhafteten zu erleichtern und einen Einblick in die Lebensweise der mobilen Bevölkerungsgruppe zu geben.
Der Bundesrat war nach dem Erlass des Heimatlosengesetztes zum Entschluss gekommen, die Verhafteten nicht mehr in Kopf- oder Brustbilder, sondern in «ganzer sitzender Figur» abzubilden. Auf der Fotografie ist Johanes Nater in einer aufrechten Haltung und mit einem neutralen Gesicht zu sehen. Alle Aufnahmen der Heimatlosen wurden auf diese Weise aufgenommen. Damit die Abgebildeten im Moment der Aufnahme das Gesicht nicht verstellen konnten, wurde nicht nur ein Kopfhalter, dessen Sockel auf der Fotografie der zwischen den Beinen des Mannes zu sehen ist, verwendet, der Bundesanwalt war auch befugt einzuschreiten, «bis ein gelungenes Bild möglich war». Eine solche Aufnahme beanspruchte sowohl den Körper als auch die Psyche der Fotografierten. Der Technologie wurde durch die Behörden eine erzieherische Funktion zugeschrieben. Dies solle durch die Bewunderung aber auch durch die Bedrohung wirken. So sagte eine fotografierte Frau: «… ich glaubte, dass man wolle mich totschiessen. Ich wusste nicht was in der Maschine ist.» Obwohl Durheim den Auftrag, in dem es 1852 hiess, die Bilder sollen dem tatsächlichen Aussehen der Heimatlosen entsprechen, unterzeichnete, zeigt die Fotografie von Johanes Nater, in welchem Spannungsfeld die Porträts standen und somit die Problematik der Heimatlosenfrage auf eine andere Weise verdeutlichten.
St.Galler Bestrebungen für die Polizei!
Artikel 4 und 7 aus dem Entwurf zu einem Gesetz über Fremdenpolizei und Aufenthalt ohne Niederlassung des Kantons St.Gallen, 1833
Eine gesamteidgenössische Lösung des Problems der Heimatlosigkeit wurde nach 1800 durch reformerische Stimmen in der Eidgenossenschaft laut. Auch die Tagessatzung bemühte sich verschiedentlich um eine gemeinschaftliche Lösung. 1812 und 1819 wurden zwei Konkordate zur Heimatlosigkeit verabschiedet. Die Schweizerische Eidgenossenschaft als loser Staatenbund hatte jedoch noch keine Handhabe, die Konkordate durchzusetzen. Obwohl gemäss des ersten Konkordates die Heimatlosen bis zum Zeitpunkt einer allfälligen Lösung geduldet werden sollten und zwar entweder im Kanton, dessen Heimatrecht sie einst besassen oder im Falle, dass sie noch nie ein Heimatrecht innehatten, in jenem Kanton, in welchem sie sich am längsten aufgehalten hatten, weigerten sich manche Orte, wie zum Beispiel Zürich und Bern, an diesen zu partizipieren. Das weiterhin praktizierte Hin- und Herschieben der Heimatlosen versinnbildlicht die eng gesetzten funktionalen Grenzen des Staatenbundes.
Wie die Auszüge aus dem des Kommissionsberichts des Grossen Rats von St. Gallen aus dem Jahr 1833 verdeutlichen, praktizierte auch der Kanton St. Gallen weiterhin das Abschieben von Heimatlosen und Nichtsesshaften über die Grenze. Mit der Einführung der vorgeschlagenen Gesetze sollte vor allem das Hin- und Herschieben der Heimatlosen endgültig gestoppt werden indem klare Strafen eingeführt werden. Wie in Artikel 4 zu sehen ist, grenzte dies die Bewegungsfreiheit für Nichtsesshafte stark ein. Das Ziel war es nicht nur die Bewegung der Heimatlosen einzuschränken, sondern sie auch durch das Visieren ihrer Dokumente einer kantonalen Kontrolle zu unterziehen. So konnten Heimatlose im Kanton St. Gallen besser erfasst werden. Die Bestimmungen sind somit auch als Versuch des Kantons zu lesen, die diese Bevölkerungsgruppe administrativ in den Griff zu kriegen und deren Bewegungen zu kanalisieren. Insbesondere Personen ohne jegliche schriftlichen Dokumente sollten gar erst nicht in den Kanton gelangen (Art. 7), was die prekäre Situation von Heimatlosen aufzeigt, deren Lebenssituation ja oft gerade durch das Fehlen von solchen Papieren gekennzeichnet war. Auch die Kriminalisierung dieser Gruppe scheint aufgrund ihrer Lebensweise scheint auf, als dass bei Zuwiderhandeln die entsprechenden Personen rechtlich verfolgt werden sollten. Durch den Überfluss an Gesetzen und Strafverfolgungen im Falle einer Gesetzeswidrigkeit, waren die Heimatlosen oft gezwungen über den Strafurteil der Kantone hinaus, weitere Straftaten zu begehen, um eine ihren ansprüchen entsprechende Lebensweise führen zu können.
Leb’, wie es dem Bund gefällt!
Das Heimatlosengesetz vom 3. Dezember 1850
Nach 1800 herrschte in der Eidgenossenschaft grundsätzlich der Konsens, dass man die Heimatlosigkeit auf der gesamteidgenössischen Ebene behandeln musste. Versuche liefen jedoch in die Leere, da sie letztlich an den Partikularinteressen der Kantone scheiterten. Die Situation änderte sich mit der Gründung des Nationalstaates im Jahre 1848. Der nunmehrige Schweizerische Bundesstaat hatte definitiv zu klären, wer zur Schweizer Nation gehörte und wer nicht. Das Heimatlosengesetz von 1850 ermächtigte den Bund dazu, das Bürgerrecht der Heimatlosen zu ermitteln und diese den Kantonen zuzuweisen. Für den Bundesrat stellte die Strategie zur Beendigung dieses in seinen Augen schädlichen Zustandes der Heimatlosigkeit die (Zwangs-)Integration dar.
Das Bundesgesetzes widerspiegelt in seinen Ausführungen die Problemlagen, die bislang hinsichtlich der Heimatlosen vorherrschten und zugleich auch den normativen Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, welche Heimatlosigkeit nicht nur als rechtliches, sondern insbesondere auch als moralisches Problem wahrnehmen. Es gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil regelt die juristische Integration, indem es die Verteilung des Kantonsbürgerrechtes für Heimatlose regelt. Der zweite Teil umfasst verschiedene Massnahmen, um das erneute Entstehen von Heimatlosigkeit zu verhindern.
In den ersten beiden Artikeln definiert das Gesetz Heimatlosigkeit. Heimatlose werden als Menschen beschrieben, die sich in der Schweiz ohne Heimatberechtigung – weder in der Schweiz noch im Ausland – aufhalten. Gleichzeitig wird Heimatlosigkeit ausdifferenziert. Hierfür ausschlaggebend ist die Mobilität beziehungsweise die Immobilität der Heimatlosen. Die sesshaften Heimatlosen hatten zwar einen festen Wohnsitz, auch wenn dieser rechtlich prekär blieb. Sie werden als Geduldete bezeichnet. Sie verfügten demnach weder über das Kantons- noch über das Gemeindebürgerrecht. Nichtsesshafte Heimatlose, werden als Vaganten bezeichnet, ein Begriff, der gerade auch moralisch stark negativ konnotiert war.
Artikel 3 des Gesetzes präsentiert dessen eigentliches Ziel. Sesshafte und nichtsesshafte Heimatlose sollen das Kantonsbürgerrecht, und dann durch die betreffenden Kantone das Gemeindebürgerrecht erhalten. Von der rechtlichen Integration bleiben aber gewisse Gruppen potenziell ausgeschlossen. So Männer ab 60 und Frauen ab 50, des Weiteren konnten straffällig gewordene Heimatlose von der Massnahme ausgenommen werden. Jedoch hatte der Kanton in vielen Fällen die Personen dennoch zu dulden sowie die Pflicht der Armenunterstützung.
Die Verteilung des Bürgerrechtes war jedoch keine Gleichstellung. Die Vollbürgerschaft war lediglich für wohlhabende Neubürger erschwinglich, denn erst mit der Vollbürgerschaft erlangten Bürger das Recht, Land zu kaufen. Dieser Status musste zuerst auf der Gemeinde entgeltlich erworben werden.
Zentraler Punkt in der rechtlichen Beseitigung der Heimatlosigkeit war, nach welchen Vorgaben die Kantone in die Pflicht genommen werden konnten. Vor der Gründung des Bundesstaates hatten sich die Kantone nicht solidarisch untereinander verhalten. Die einzelnen Kantone hatten so wenig Heimatlose wie möglich aufnehmen wollen, da mit ihrer Aufnahme auch Unterstützungsansprüche geltend gemacht werden konnten, beispielsweise falls die Aufgenommenen «argmengenössig» geworden wären .
Der Artikel 11 befasst sich demnach mit der Entscheidung der kantonalen Verantwortlichkeit von Heimatlosen.
In den Richtlinien für die Bestimmung der Zuständigkeit der Kantone für die Heimatlosen, kam dem familiären Hintergrund einer Person wichtige Bedeutung zu. Nahe Verwandte, die das Bürgerrecht in einem Kanton hatten, sind demnach richtungsgebende Indikatoren für die Distribution der Unwillkommenen. Auch ehemalige Konkordatsentscheide der Eidgenossenschaft behielten in manchen Fällen die Rechtsgültigkeit. Ein weiterer Entscheidungsgrund ist die längste Aufenthaltsdauer einer Person in einem Kanton. Der Bund veranlasst zudem, dass früheres Versagen oder mangelhaftes Arbeiten der kantonalen Fremdenpolizeien durch Integration von Heimatlosen “bestraft” wird. Zudem kann die Nachlässigkeit der Behörden bezüglich der obligatorischen Meldepflicht von Heimatlosen ebenfalls als Konsequenz die Verpflichtung zur Integration mit sich bringen. Bei früheren Akquisitionen von ausländischen Arbeitskräften durch Kantone, werden diese Kantone zur Verantwortung bezüglich der Integration gezwungen. Des Weiteren sind die Kantone auch für die Amtsträger öffentlicher Stellen verantwortlich. Einst erteilte Ausweisschriften sind ebenfalls von Relevanz, und die “Fremden” werden eingebürgert. Natürlich können sich verschiedene Dimensionen für die Zuständigkeit überschneiden. In solchen Fällen ist davon auszugehen, dass das Bundesgericht die Entscheidung zu fällen hatte.
Nebst der rechtlichen (Zwangs-)Integration der Heimatlosen in den Kantonen und Gemeinden sah das Bundesgesetz im zweiten Teil – betitelt mit «Massregeln zur Verhinderung der Entstehung neuer Fälle von Heimatlosigkeit» – auch Massnahmen gegen die nichtsesshafte Bevölkerungsschicht vor. Die Massnahmen bringen die moralischen Wertmassstäbe sowie die Kriminalisierung der nichtsesshafte Lebensform und somit das Fortdauern von Diskriminierung auch unter dem Bundesgesetz zum Ausdruck. Ziel des Bundes war letztlich, die nichtsesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise zu zerstören. Erreicht werden sollte dies durch die Anpassung der Betroffenen an die sesshafte Lebensweise, wobei sogar als Massnahmen hierfür Umsiedlung, Verhaftung oder Zwangsarbeit gesehen werden.
Art. 15 verdeutlicht, dass die als moralisch unterlegen wahrgenommenen Heimatlosen durch das Gesetz zu einem «sittlichen Lebenswandel» geführt werden sollten. Dieser Gesetzesartikel war ein tiefer Einschnitt in das Privatleben vieler Heimatloser. Aussereheliche Beziehungen sollten verschwinden. Die offizielle Eheschliessung konnte im konkreten Fall an gesetzlichen Heiratshemmnissen scheitern, die Personen aufgrund von Armut oder bestimmtem «moralischen Verhalten» von der Ehe ausschliessen konnte. Uneheliche Kinder, welche durch dieses Gesetz eingebürgert werden, müssen laut Art. 16 Schulunterricht und vor allem den Religionsunterricht besuchen, von denen offensichtlich eine positive moralische Beeinflussung ausgehen sollte. Klar zu erkennen ist, dass der unsittliche Lebensweg innerhalb weniger Generationen aussterben sollte.
Besonders ungewollt war vor dem Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaftsnormen die nichtsesshafte Lebensweise. Diese wurde grundsätzlich kriminalisiert. Personen, die als Vaganten oder Bettler angesehen wurden, sollten verhaftet, zu Zwangsarbeit verpflichtet oder – sofern sie als Nichtschweizer eingestuft wurden – ausgeschafft werden. Das Heimatlosengesetz schuf somit letztlich auch neue Instrumente der Diskriminierung.
Neues Gesetz, altes Urteil!
Das Heimatlosengesetz von 1850 besass auf der einen Seite eine (zwangs-)integrative Wirkung. Auf der anderen Seite besserten sich die Umstände für die Betroffen nur wenig. Die zwangseingebürgerten Männer und Frauen erhielten zwar staatsbürgerliche Rechte sowie die Niederlassungsfreiheit und im Falle der Männer das politische Mitspracherecht. Eine komplette rechtliche Gleichstellung bedeutete dies jedoch in der Realität oft nicht. So wurden die neu «eingebürgerten» Männer und Frauen zwar in den Bürgerstatus aufgenommen, mussten jedoch von den jeweiligen Gemeinden nicht das volle Ortsbürgerrecht erhalten, was sie etwas vom sogenannten Bürgernutzen ausschloss.
Gegen diese ausgrenzende und diskriminierende Praxis legten Nachkommen eines von der Gemeinde Trimmis im Jahre 1828 als „Ungehörigen“ aufgenommenen Alois Schlapp und eines Anton Mehli und sämtliche Personen, welche zwischen 1826 und 1850 geboren wurden, beim kleinen Rate von Graubünden Beschwerden ein. Mit der Beschwerde verlangten die Kläger eine Aufnahme ins Vollbürgerrecht, da laut Artikel 4 des Bundesgesetzes von 1850 die ehelichen Kinder eines Heimatlosen, die nach dessen Einbürgerung geboren wurden, vollberechtigte Bürger der jeweiligen Gemeinde würden, in welcher der oder die Heimatlose eingebürgert worden war.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde laut dem Entscheid von 1876 als unbegründet ab. Vor dem Bundesgesetz von 1850 variierten die kantonalen Gesetze betreffend Bürgerrecht und Heimatlose stark. Auf den Fall der Nachkommen von Alois Schlapp und Anton Mehli bezogen, scheiterte deren Beschwerde an der Tatsache, dass diese den Beweis nicht erbringen konnten, dass ihre Eltern dem bündnerischen Gesetze nach, bereits vor dem Erlassen des Bundesgesetztes am 3. Dezember 1850 in die Gemeinde Trimmis eingebürgert worden waren und somit als “Eingebürgerte” galten. Das Gericht verweist darauf, dass die Konkordate, welche vor dem Bundesgesetz galten, Alois Schlapp und Anton Mehli lediglich zu Geduldeten der entsprechenden Gemeinde Trimmis erklärten und daher deren Einbürgerung erst nach dem Erlass des entsprechenden Gesetzes erfolgte (Art. 2 Ziffer 1 des Bundesgesetzes vom 3. Dezember 1850). Entsprechend wurden die zwischen 1826 und 1850 geborenen Nachkommen nicht als Vollbürger angesehen. Deshalb hätten sie gemäss den Bestimmungen des Heimatlosengesetzesvon 1850 kein Anrecht auf einen Anteil am Bürgernutzen.
Der Fall verdeutlicht, dass auch mit dem Einbürgerungsgesetz, welche die Integration fördern sollte, in juristischer Hinsicht Zurücksetzung, Ausgrenzung und Diskriminierung möglich war.
Nach der Diskriminierung ist vor der Diskriminierung
Eintrag aus dem Einsiedler Stammbuch vom November 1851, der die Erleichterung über den Tod zweier unehelicher Kinder zum Ausdruck bringt.
Despektierliche Äusserungen in einem Eintrag des Einsiedler Stammbuchs über eine «Neubürgerin» vom 11. November 1862
Auch nach dem Heimatlosengesetz von 1850 und der dadurch erfolgten (Zwangs-)Einbürgerung von Heimatlosen wurden die Heimatlosen ausgegrenzt. Gerade auch durch die sogenannten «Altbürger» erfuhren die Heimatlosen oder wie sie neu genannt wurden, die «Neubürger», vielerlei Diskriminierungen. Sie gehörten nun zwar zu einer Gemeinde und hatten einen Heimatschein, wurden oftmals aber nicht als gleichberechtigte Bürger behandelt und fanden kaum Möglichkeiten, der Armut zu entkommen. Das Stammbuch von Einsiedeln liefert Hinweise für diese diskriminierende Praxis. Unter anderem wurde den «Neubürgern» vorgeworfen das sie sich der bürgerlichen Moral nicht unterordnen würden. Gerade Frauen wurden Ziel dieser Anschuldigung. Insbesondere das Konkubinat wurde als unmoralisch abgelehnt. Despektierlich wurde so etwa am 11. November 1862 notiert, dass selbst eine schielende und «fast blödsinnige» «Neubürgerin» nun mit einem Mann im Konkubinat lebe und nun unehelich schwanger sei. In der Ablehnung unehelicher Beziehungen lassen sich auch frühe eugenische Vorstellungen erkennen. In einem anderen Eintrag vom November 1851 wurde in diesem Sinne sogar der Tod unehelich geborener Kindern begrüsst und befürwortet. Auch hier erfolgte die Argumentation entlang moralischer Kriterien. Gepaart mit moralischen Motiven mögen für diese Reaktion auch finanzielle Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Der unerwünschte Nachwuchs hätte der Gemeinde zur Last fallen können.
Quellenverzeichnis
Titelbild
Jauslin K. (1894). Transport einer heimatlosen Familie. In Eidgenössischer National-Kalender für das Schweizervolk, 70, S. 33.
Lebenswandel als Vergehen
o.A. (1823). Allgemeines Signalement-Buch für die Schweizerische Eidgenossenschaft enthaltend alle ab Seite der sämtlichen Hohen Regierungen verhängten öffentlichen Verhafts-Befehle, Steckbriefe, Landesverweisungen, Beschreibungen und Warnungen von verdächtigen Individuen, Anzeigen von beträchtlichen Diebstählen etc, Bd. VIII. Bern: Haller, S. 118.
Unrealistische Fotographie
Nater, Johannes, alias Konrad Brenner, Jakob Huber, Jakob Keller (1852–1853). Schweizerisches Bundesarchiv E21#1000/131#20507#140*.
St.Galler Bestrebungen für die Polizei
o.A. (1833). Entwurf zu einem Gesetz über Fremdenpolizei und Aufenthalt ohne Niederlassung (Von einer Kommission des Grossen Rathes bearbeitet und vorgesetzt im November 1833. o.O. o.V., S. 4–5.
Leb‘ wie es dem Bund gefällt!
Bundesgesetz die Heimathlosigkeit betreffend, Bern 3. Dezember 1850. In StASG, KA R.89.
Neues Gesetz, altes Urteil!
Bundesgerichtsentscheid vom 26. November 1876 in Sachen Schlapp und Consorten. In Bundesgerichtsentscheide 2 I, S. 420–423, S. 422–423. Online unter: https://www.servat.unibe.ch/dfr/Pdf/c1002420.pdf (24.03.2020).
Nach der Diskriminierung ist vor der Diskriminierung
Gemeindearchiv Einsiedeln/Zivilstandsamt der Gemeinde Einsiedeln, M I 4.1, Burger (Neuburger) Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27. November 1851, S. 9, zit. nach Argast, R. (2007). Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschliessung und Integration in der Schweiz 1848–1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 150.
Gemeindearchiv Einsiedeln/Zivilstandsamt der Gemeinde Einsiedeln, M I 4.1, Burger (Neuburger) Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27. November 1851, S. 4, zit. nach Argast, R. (2007). Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschliessung und Integration in der Schweiz 1848–1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 149.
Sammelbibliographie
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Die Autorinnen und Autoren
Emira Haliti
Benjamin Frischknecht
Kim Noser