Sucht

Die offene Drogenszene in der Schweiz: Platzspitz, Letten, Bienehüsli und
Schellenacker

Vertiefung: Die Schweizer Drogenszene in der Erinnerungskultur

Mitte der 1980er Jahre debattierten Bevölkerung, Staat und Medien heftig über in offenen Drogenszenen sichtbar gewordene Folgen von Drogenkonsum und Abhängigkeit mit all ihren Begleiterscheinungen. Doch trotz intensiver Auseinandersetzungen existierte kein einheitliches Drogenverständnis. Was Drogen sind und wie mit ihnen in der Gesellschaft umgegangen werden soll, unterliegt nicht nur der kulturellen Wahrnehmung, sondern auch politischen oder ideologischen Überzeugungen. «Drogensüchtige» wurden anfänglich oft mit illegalen Handlungen in Verbindung gebracht und sie wurden pauschalisierend zu Sinnbildern eines verunglückten Lebens. Es ging lange, bis einzelne süchtige Menschen und ihre Geschichten einen gebührenden Platz in der medialen Berichterstattung bekamen. Dies hat auch damit zu tun, dass die Definition von Drogen und deren Wahrnehmung laufend vom Staat und der Bevölkerung verändert wurde. Was wird wann als Droge bezeichnet? Stellen Drogen eine Gefahr für die Sozialgesellschaft dar oder sind sie lediglich Genussmittel? Dreh- und Angelpunkt der Wahrnehmung der Drogenproblematik in der Schweiz bildeten die offenen Drogenszenen, die sich an bestimmten Orten manifestierten. Eine zentrale Rolle spielten Mitte der 1980er Jahre der Platzspitz und in den 1990er Jahren der Letten in Zürich. Fast gleichzeitig entwickelten sich in St. Gallen Szenen beim Bienehüsli und auf dem Schellenacker. Zu dieser Zeit erlebte auch die Berichterstattung über die Drogenproblematik ihren Höhepunkt. Die Bevölkerung monierte die misslichen Zustände auf den öffentlichen Plätzen, die von Schmutz und herumliegenden Spritzen geprägt waren, und erkannte darin das Hauptproblem einer verfehlten Drogenpolitik. Die Politik ihrerseits fokussierte auf die offenen Drogenszenen selbst, auf die «Fixerinnen» und Dealer, was die Spannungen zwischen Bevölkerung und Drogenabhängigen verstärkte.

Heute noch spielen die Schauplätze der offenen Drogenszenen der 1980er und 1990er Jahre eine Rolle in der Erinnerungskultur. An medial inszenierten Gedenktagen, in Biografien oder jüngst in einem Spielfilm stehen Orte wie der Platzspitz oder das Bienehüsli sinnbildlich für das «Drogenproblem», das die Schweiz bewegte.

Platzspitz – Die Schweizer Drogenhölle

Der «Needle Park» in Zürich 1990

Das Nachbeben der weltweiten 68er Bewegung zeigte sich ausgeprägt ab 1980 auch in der Schweiz. Drogen waren damals vor allem für die Jugend auch Symbol des Ausbruchs aus gesellschaftlichen Zwängen. Obwohl der Konsum von Drogen und Alkohol bereits seit den 1950er Jahren anstieg, entstand damals noch keine Drogendebatte. Das «Drogenproblem» wurde als solches erst mit der Sichtbarkeit des Elends und der Sucht öffentlich thematisiert. Der Drogenkonsum erfolgte erst unterschwellig. Erst nach und nach bildeten sich eigentliche offene Drogenszenen. Mitte der 1980er Jahre wurden diese – und mit ihnen auch der Heroinkonsum – in der Schweiz sichtbar, so auf dem Platzspitz und dem Letten in Zürich, aber auch beim Bienehüsli oder auf dem Schellenacker in St. Gallen. Mitte der 1980er Jahre wurden diese – und mit ihnen auch der Heroinkonsum – in der Schweiz sichtbar, so auf dem Platzspitz und dem Letten in Zürich, aber auch beim Bienehüsli oder auf dem Schellenacker in St. Gallen. Dies führte zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Szenengängerinnen und Szenengängern und der «normalen» Bevölkerung.

Das Nachbeben der weltweiten 68er Bewegung zeigte sich ausgeprägt ab 1980 auch in der Schweiz. Drogen waren damals vor allem für die Jugend auch Symbol des Ausbruchs aus gesellschaftlichen Zwängen. Obwohl der Konsum von Drogen und Alkohol bereits seit den 1950er Jahren anstieg, entstand damals noch keine Drogendebatte. Das «Drogenproblem» wurde als solches erst mit der Sichtbarkeit des Elends und der Sucht öffentlich thematisiert. Der Drogenkonsum erfolgte erst unterschwellig. Erst nach und nach bildeten sich eigentliche offene Drogenszenen. Mitte der 1980er Jahre wurden diese – und mit ihnen auch der Heroinkonsum – in der Schweiz sichtbar, so auf dem Platzspitz und dem Letten in Zürich, aber auch beim Bienehüsli oder auf dem Schellenacker in St. Gallen. Dies führte zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Szenengängerinnen und Szenengängern und der «normalen» Bevölkerung.

Anfänglich reagierten die Regierungsverantwortlichen mit Repression. Doch diese war weitgehend wirkungslos. Die offene Szene im sogenannten Needle-Park wurde vorerst toleriert, die Zustände verschlimmerten sich aber rasant und der Platzspitz entwickelte sich zu trauriger Berühmtheit.  Es kam zu grossen Ansammlungen und tausende «Süchtige» tummelten sich hier. Einige besassen eine eigene Wohnung und gingen zur Arbeit, andere lebten permanent auf dem Platzspitz und hielten sich mit Drogenhandel, Prostitution und Diebstahl über Wasser. Die Abbildung vom Zürcher Platzspitz zeigt den Alltag, die eigene Welt der drogenabhängigen Menschen. Improvisierte Betten aus Kartonschachteln und Marktstände aus Bananenschachteln und Gemüseharassen verteilten sich über den Platz hinweg. Menschen sitzen, in Decken gehüllt, am Boden oder versuchen, sich an einem Feuer zu wärmen. Für einige Drogenkonsumierende war dieser Ort der Lebensmittelpunkt, hier hielten sie sich auf und bestritten ihren Alltag mit eigenen Regeln.

Die wachsende Szene verlangte nach mehr Kontrolle. Überwachung und Interventionen der Ordnungsdienste wurden zu einer Gratwanderung für die Polizei. Es herrschte eine konstante Polizeiaktivität, Betroffene wurden durch das Zürcher Interventions-Pilotprojekt ZIPP versorgt und Öffentlichkeitsarbeit wurde betrieben. Dennoch wuchs mit der Szene auch die kritische Wahrnehmung in der Bevölkerung. Der Platzspitz platzte bald aus allen Nähten und Prostitution, Drogenhandel und Kriminalität schürten Angst und verbreiteten Unsicherheit bei den Einwohnern der Stadt Zürich.

«Fixerinnen und Fixer»

Stand der Ausbildung bei Platzspitzbesuch

Wohnsituation der Drogenkonsumierenden

Einnahmequelle von Drogenkonsumierenden

Ort des Aufwachsens der Drogenkonsumierenden

Durch die Sichtbarkeit des Drogenelends in der Öffentlichkeit wurde erstmals wahrgenommen, dass der Heroinkonsum inmitten der Schweizer Gesellschaft angekommen war und sie herausforderte. Der Konsum von Drogen geschah nicht mehr nur im Verborgenen, sondern auch an Orten, an denen sich «normale Bürgerinnen und Bürger» aufhielten und alles genauestens verfolgen konnten. Offene Drogenszenen entstanden am Platzspitz und dem Letten in Zürich, aber auch beim Bienehüsli und auf dem Schellenacker in St. Gallen.

Die Wahrnehmung des «Drogenelends» der 1980er Jahre war gespickt mit Klischees und Stigmatisierung. Drogenkonsumierende, insbesondere die «Fixerinnen und Fixer», wurden von der Presse in die Ecke der «randständigen Versager» gesteckt, obwohl um 1990 mindestens 50% der Heroin-, Kokain-, Cannabis- und Ecstasykonsumierenden alles andere als «randständige Versager» waren. Die Tabelle zeigt, dass über 50% der Konsumierenden eine abgeschlossene Berufsausbildung hatten und einer regulären Arbeit nachgingen und demgegenüber lediglich 26% keine Ausbildung begonnen oder diese abgebrochen hatten. Des Weiteren wird in der Tabelle ersichtlich, dass über 50% eine eigene Wohnung besassen und 58% bei ihren Eltern aufgewachsen waren. Die Zahl der Konsumierenden, die in einer Institution, auf der Strasse oder in einer Notschlafstelle übernachteten, lag lediglich bei 17%. Viele Konsumierenden waren demzufolge Frauen und Männer, deren Drogenkonsum sie nicht auf die kriminelle Bahn führte, sondern sie dabei unterstützten sollte, die berufliche Karriereleiter hochzusteigen. Diese Zahlen widerlegt das Bild der Drogenkonsumierenden als «randständige Versager». Die Zahlen verdeutlichen weiter, dass die Deutung der Wahrnehmung der Drogenproblematik in der Schweiz stark von der Entwicklung der offenen Drogenszenen und ihrer Darstellung in den Medien beeinflusst wurde.

Die St. Galler Drogenszene

Momentaufnahme im Schellenacker in St. Gallen, frühe 1990er-Jahre

Morgens um 7:00 Uhr im «Bienenhüsli» in St. Gallen 1990

Die Drogenpolitik antwortete laufend auf die Bildung von Drogenszenen. An all den Standorten, an denen offene Szenen entstanden, spielte sich eine ähnliche Entwicklung von anfänglicher Repression zur Prävention ab.

Es entstand ab 1986 die zuerst geduldete und später aufgelöste Grossdrogenszene auf dem Platzspitz in Zürich. Hier wie auch in St. Gallen scheiterte die abstinenzorientierte Strategie, welche auf Repression setzte. Konsumenten wurden dabei kriminalisiert und der Konsum von Drogen strafrechtlich verfolgt. Ab 1988 erfolgte in St. Gallen eine Neuorientierung durch einen differenzierten Umgang mit den abhängigen Menschen. Die Gesellschaft und die Politik erkannten, dass der Heroinkonsum zur Tatsache geworden war, worauf die Stadt 1989 den Konsumraum Bienehüsli, später den Schellenacker einrichtete. Ziel war es, dadurch den Konsum zu regulieren und zu kontrollieren. Nun war die Zusammenarbeit von Stadtrat, Polizisten, Sozialarbeitern und Ämtern gefragt. Diese drogenpolitische Zusammenarbeit erhielt später den Namen «der St. Galler Weg».

Wie waren die Zustände in den bereitgestellten Räumlichkeiten? Die beiden Momentaufnahmen geben einen Einblick in die Fixerräume der Stadt St. Gallen. Die Fotografie beim Schellenacker zeigt den Alltag der drogenabhängigen Menschen und auf welche Art und Weise Drogen, insbesondere Heroin, konsumiert wurden. Auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schilderten das Bienenhüsli als Ort der Verelendung und des Ausnahmezustands. Die Fixerräume waren schmutzig; Spritzen, Papiersäcke und Stofffetzen lagen auf dem beschmierten Boden, auf dem sich auch der Müll türmte.

Die bereitgestellten Räume dienten als rechtsfreie Orte, in welchen sich Konsumierende und Dealer ungestört aufhalten konnten. Gemäss Schätzungen trafen auf dem Schellenacker jeweils 20 bis 100 Personen aufeinander, über den Tag verteilt hielten sich jedoch bis zu 500 Personen beim Standort auf.

Aufruhr in der Bevölkerung

Beschwerdebrief vom 29. August 1991

Fotografie zu «Aktionstag gegen Drogen im Kreis 5» vom 05. Februar 1994

Ende der 1980er Jahre kam es in der Politik zu einer Neuorientierung des Blicks auf Sucht und auf süchtige Menschen und zu einem differenzierteren Umgang mit abhängigen Menschen. Das Verständnis für und Mitgefühl mit süchtigen Menschen wurde aber durch die offenen Drogenszenen laufend auf die Probe gestellt. Die Verabschiedung der Politik von rein repressiven Massnahmen und die Bildung offener Drogenszenen führte zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Szenengängerinnenn und Szenengängern und der «normalen» Bevölkerung.

Der Platzspitz, aber auch das Bienenhüsli,  wurden bald zu Hotspots des Drogenkonsums, der Kriminalität und der Randständigkeit in Zürich respektive St. Gallen deklariert. Das anfängliche Verständnis für die heroinsüchtigen Menschen wurde allmählich zur Belastung der Nachbarschaft, welche sich in Wohnqualität und Sicherheit beeinträchtigt fühlte. So stiess das Bienehüsli etwa in der Liegenschaft «Unterer Graben» auf Widerstand, der sich unter dem Motto «Not in my Backyard» formierte. Die Anwohnerinnen und Anwohner sammelten Unterschriften für eine sofortige Schliessung des Bienehüsli oder schrieben im Kollektiv Beschwerdebriefe an den Stadtrat, in welchen sie das Elend und die Belastung durch die Szene präzise schilderten.

Das Fazit lautete, dass die Bevölkerung für behördliche Hilfe und Zufluchtsorte für Drogenkonsumierende stimmte, solange diese nicht in ihrer eigenen Nachbarschaft lagen.

Die Unzufriedenheit mit der städtischen Drogenpolitik lässt sich anhand des Beschwerdebriefs illustrieren, in dem ein Anwohner seinen Frust gegenüber den Entscheidungen des Stadtrats niederschreibt. «Wir arbeiten, um dieses verdammte Pack zu verhalten und der Stadtrat unternimmt nichts». Die klaren Worte sind ein Appell an den Stadtrat und zeigen die emotional aufgeladene Stimmung. Auch in der Fotografie «Aktionstag gegen Drogen im Kreis 5» zeigt sich, dass die Drogenproblematik nicht an der Bevölkerung vorbeiging und öffentlich diskutiert und kommentiert wurde.

Aufgrund der Forderungen der Anwohner rund um das Bienehüsli anfangs 1991 wurde die Szene in die Nähe des Olma-Areals verschoben, was zu einer finanziellen Mehrbelastung der dortigen Geschäfte führte. Der Schellenacker galt als letzte offene Drogenszene der Stadt und erhielt die Bezeichnung «Sankt-Galler Letten». In Zürich spielte sich 1992 eine ähnliche Verschiebung der Szene nach der überstürzten Schliessung des Platzspitz ab.

Nachbeben der Platzspitzschliessung

Videobeitrag zur Platzspitz-Schliessung des News Magazins «10vor10» vom 7. Februar 1992

Der Platzspitz in Zürich wurde zu einem Symbol für eine aus dem Ruder gelaufene Drogenpolitik. Nur langsam fand ein Umdenken und eine Veränderung der Wahrnehmung der Drogenkonsumierenden statt.

Die Aufgabe zur Überwachung des Drogenschauplatzes und zur Intervention war eine Gratwanderung für die oft intervenierende Polizei. Die süchtigen Menschen wurden vor allem durch private Initiativen, etwa von Pfarrer Ernst Sieber, oder durch ZIPP-Aids, das Zürcher Interventions-Pilotprojekt, versorgt. Durch ZIPP-Aids wurden beispielsweise sterile Injektionsutensilien verteilt, Wunden verpflegt oder Aids-Tests angeboten. Die Helfer waren Sozialarbeiter, Ärztinnen, Pfleger, teilweise Angestellte, aber auch viele Freiwillige. Trotz der Hilfsbereitschaft wuchs mit der Szene auch die kritische Wahrnehmung in der Bevölkerung, denn der Platzspitz platzte bald aus allen Nähten und Prostitution, Drogenhandel und Kriminalität schürten Angst. Dies setzte den Zürcher Statthalter unter Druck, weshalb dieser schliesslich eine abrupte Schliessung des Platzspitzes anordnete.

Der SRF-Bericht über diese Schliessung des Platzspitz in Zürich zeigt in drastischen Bildern die unmittelbaren Folgen dieser politischen Entscheidung. Es kam zu einer unkontrollierten Zerstreuung der Szenengänger und Dealer in die angrenzenden Quartiere. Die Bilder zeigen Spritzen auf den Strassen, intensive Polizeipräsenz und Menschen, die sich inmitten der Bevölkerung Heroin spritzen. Polizeipatrouillen und Durchsuchungen von Personen  in den anliegenden Quartieren gehörten plötzlich zum Alltagsbild. Dies sorgte für neue Kritik, die, wie im Beitrag zu sehen, auch Emilie Lieberherr zu hören bekam. Als Politikerin und erste Zürcher Stadträtin war sie eine Vorkämpferin der fortschrittlichen Drogenpolitik und der Schweizer Frauenpolitik. Durch ihre langjährige Arbeit im Sozialdepartement wirkte sie auch nachhaltig im Aufbau des Vier-Säulen-Prinzips in der Drogenpolitik mit.

 

Schluss mit dem Drogenelend – Nehmen Sie teil an der Räumung des Letten 

Satirischer Artikel aus dem «Nebelspalter» im Jahr 1995

Verordnung zur Lettenschliessung, 1995

1992 wurde der Platzspitz Letten geschlossen. Nach einer anfänglichen Zerstreuung der Szene fand diese einen neuen Platz rund um das Gelände des stillgelegten Lettenbahnhofs in Zürich. Ab 1993 etablierte sich dort schliesslich eine neue offene Drogenszene, wodurch die alten Probleme aber nicht gelöst waren. Die Anwohnerinnen und Anwohner störten sich weiterhin an den Konsequenzen des Drogenkonsums im öffentlichen Raum. Die Lage rund um den Letten verschlechterte sich ab Mitte 1994 zunehmend. Brutalität und Schiessereien waren an der Tagesordnung.

Dass die Schweizer Bevölkerung endlich mit dem «Drogenproblem» abschliessen wollte, suggeriert dieser Artikel des Satiremagazins «Nebelspalter». Darin werden die Leserinnen und Leser dazu aufgefordert, den eigenen Letten zuhause aus der Welt zu schaffen. Man solle in der im Satiremagazin abgedruckten Doppelseite alles «Hässliche» ausschneiden und die Lücken mit all dem «Schönen», das man findet, ersetzen. Genau dies, so die Kritik des Nebelspalters, versuche die Zürcher Politik mit der sich anbahnenden Letten Schliessung. «Sauber und endgültig».

Schliesslich wurde auch der Letten 1994 polizeilich geräumt, hunderte Süchtige, aber auch Prostituierte oder Dealer verteilten sich in die Hinterhöfe der Langstrasse und über die ganze Stadt. Szenenbildungen gab es von diesem Zeitpunkt an nur noch ansatzweise, eine neue Grossszene konnte sich aber nie mehr etablieren. Dies hängt auch mit der neuen Strategie der Drogenpolitik zusammen. Man wollte keine vereinzelten offenen Plätze mehr, in denen die Drogenabhängigen grösstenteils sich selbst überlassen wurden, sondern viele spezialisierte Einrichtungen zur Eindämmung des Drogenelends bereitstellen.

Die Drogen fordern ihren Tribut

Ereignisse in Zürich und Drogentote in der Schweiz 1975-1994

Anhand dieser Statistik wird sichtbar, welchen Tribut der Drogenkonsum in den 1990er Jahren forderte. Auffallend ist, dass die Zahlen der Toten mit der Bildung und dem Anwachsen der offenen Drogenszene am Platzspitz stetig ansteigen, bis hin zur Bildung der offenen Drogenszene am Letten, wo mit 419 Drogen-Toten der traurige Höhepunkt erreicht wurde. Neben den Drogenkonsumierenden forderte auch die ansteigende Gewalt rund um den Letten viele Todesopfer. Medien prangerten den «permanenten Zuwachs an Brutalität» mit «täglichen Schiessereien» an.

Erstaunlich bleibt aber dennoch der Unterschied der Anzahl Drogentoten auf dem Letten und dem Platzspitz. Dass die Zahlen derart gestiegen waren, passt zum allgemeinen Bild der Statistik, das zeigt, dass die Drogenszene allgemein in der Zeit nach 1980 ein enormes Wachstum erlebt hatte. Und obwohl versucht wurde, die Abhängigen an einzelnen Orten zu konzentrieren und dadurch die Szene zu kontrollieren, funktionierte dies nur bedingt. Die zu beklagenden Todesfälle stiegen weiter an. Die Anzahl Drogentoter ist auch ein Indiz dafür, welche Szene am grössten war. Die Statistik macht auch deutlich, dass die Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der anliegenden Bewohner durchaus ihre Berechtigung gehabt haben dürfte.

Explosion der Berichtserstattung im Jahre 1994

Auf die stetigen Veränderungen der offenen Drogenszenen reagierten auch die Medien. Die Wahrnehmung des «Drogenproblems» wurde kommerzialisiert und dramatisiert. Bis Mitte der 1990er Jahre wurde hauptsächlich über drogenabhängige Menschen und nicht mit ihnen gesprochen. Es wurden Elend und Kriminalität gezeigt, ohne gesellschaftliche Hintergründe oder persönliche Schicksale ans Licht zu bringen. Die Zurschaustellung von verwahrlosten «Fixerinnen» oder «Junkies», von miserablen Umständen der offenen Drogenszenen und der Verslumung rund um den Platzspitz oder das Bienehüsli dominierte die Berichterstattung. Der Zeitraum von 1993–1999 stellte dabei den weitaus aktivsten Teil der Presse dar. Es lässt sich wiederum eine Verbindung zur Lettenphase erkennen. Aufgrund der zunehmenden Probleme am Letten kulminierte die Anzahl Artikel in der Schweiz auf insgesamt 2094. Ausgehend von diesem Höhepunkt, fiel die Zahl der Artikel fast kontinuierlich ab auf ein neues Minimum von 510 Artikeln im Jahr 1999, wobei in diesem Jahr nur die ersten sechs Monate erfasst wurden. Noch klarer ersichtlich wird der Rückgang des öffentlichen Interesses anhand des Seitenumfangs der Berichte zur Drogenthematik. Wurden hierbei in der hitzigsten Phase über 550 Seiten veröffentlicht, verringerte sich diese Zahl fortlaufend um ca. 70 Seiten pro Jahr bis 1998. Wenn man die Zahl von 1999 hochrechnet, so stimmt auch diese mit dieser Tendenz überein.

Nach der Lettenschliessung 1995 änderte sich die Sichtweise der Medien. Süchtige Menschen wurden vermehrt als normale Bürgerinnen und Bürger dargestellt – mit alltäglichen Problemen.

Dass der Umfang der Berichterstattung mit der Wahrnehmung der Bevölkerung zusammenhängt, lässt sich am Sorgenbarometer des GfS-Forschungsinstituts erkennen. 1994 bezeichneten drei Viertel der Befragten das «Drogenproblem» als eines der fünf dringlichsten Probleme, die es zu lösen gelte. Nur ein Jahr später, also nach der Schliessung der Lettenszene, sank dieser Wert auf unter 35 %.

Nachwirkung der Suchthilfe

Die Drogenproblematik wurde historisch immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Die Neuorientierung in der Drogenpolitik Ende der 1980er Jahre zog einen differenzierteren Umgang mit den abhängigen Menschen nach sich. Die Gesellschaft musste akzeptieren, dass der Heroinkonsum auch in der Schweiz zur Tatsache geworden war und Repression keine langfristige Lösung bot.

Dennoch stiessen die neue Richtung der Prävention und des St. Galler Wegs nicht nur auf Zustimmung. Ein Meilenstein dieses neuen Wegs war die legale Drogenabgabe an Konsumierende, welche sie von Stress entlasten und den illegalen Drogenhandel eindämmen sollte. Die Bevölkerung war verunsichert und skeptisch, da die offenen Drogenszenen als Orte der Kriminalität angesehen wurden.

Die Audioquelle zum 25-jährigen Jubiläum der Stiftung Suchthilfe, in welcher Betroffene zu Wort kommen, bietet einen Eindruck in die Nachwirkung dieser Suchthilfe.

Ich gehe jeden Morgen und am Abend dorthin, um mir mein Heroin spritzen zu lassen. Ohne die Suchthilfe wäre ich heute nicht mehr am Leben.

Eine 52 Jährige Konsumierende

Heute kann sie ihrem Arbeitsleben nachgehen dank kontrollierter Heroinabgabe. Stiftungspräsident Christian Crottognin äussert sich über den Einfluss der Suchthilfe und erklärt die Relevanz der Zusammenarbeit.

Wenn wir das Problem angehen möchten, müssen wir uns zusammenschliessen. Mit dieser Einsicht waren wir in St. Gallen die Ersten.

Stiftungspräsident, Christian Crottognin

Durch Oral History kommen in diesem Beitrag Betroffene zu Wort und betrachten rückblickend den individuellen Einfluss der Suchthilfe auf ihren Lebensweg. Wie haben sie in der Zeit der offenen Drogenszenen ihren Alltag bestritten und wie leben sie heute? Diese kurze Audiosequenz zeigt auch den Wandel, der in der medialen Berichterstattung vollzogen wurde. Diese lässt vermehrt auch Betroffene zu Wort kommen, spricht mit und nicht mehr nur über Menschen, die vom Drogenelend, das die Schweiz in den 1990er Jahren bewegte, betroffen waren.

Die Drogenszene in der Erinnerungskultur – Szenen aus dem Drogenalltag einer St. Galler Fixerin

Den Alltag einer Drogenabhängigen beleuchtet die im Jahr 2003 erschienene Autobiographie «Nur für einen Tag» von Britta Serwart. Es ist ein Zeitzeugendokument aus subjektiver Perspektive, gestützt auf Notizen, die Britta Serwart während ihrer Untersuchungshaft machte, in der sie wegen Drogenkonsum und Dealerei sass. Britta Serwart war selbst eine St. Galler «Fixerin», die in ihrem 16. Lebensjahr zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt kam. Die St. Gallerin konsumierte zu Beginn mit ihrem Ehemann regelmässig in kontrollierten Mengen Methadon. Als sie mit 30 Jahren und zwei gemeinsamen Kindern ihren Mann an einen «durchgedrehten Junkie» verlor und ihre Kinder weggenommen wurden, rutschte Britta Serwart in einen exzessiven Kokainkonsum ab. Sie erzählt in ihrer Autobiographie, wie sie sowie viele andere Drogenkonsumierende mit ähnlichen Schicksalen in der Drogenszene zwanzig Jahre lang eine Familie suchte und dabei zahlreiche, teilweise traurige und schmerzhafte, aber auch hoffnungsvolle, Geschichten erlebte.

Der Ausschnitt aus der Quelle zeigt, wie das Leben vieler Menschen in der Drogenszene von Adrenalin, Not, Elend und Flucht geprägt war. In der hier abgedruckten Szene erinnert sich Britta Serwart im Gefängnis an eine hier detailliert beschriebene Flucht vor Polizisten, bei der sie sich verletzte, aber trotz Verletzung nur an eins denken konnte, an den nächsten Schuss, den sie sich in Zürich auf dem Platzspitz besorgen wollte:

Der ganze rechte Unterschenkel war schwarz, blutunterlaufen vom Knie bis zu den Zehen. Ein Albtraum. […] Doch ich musste mich zusammenreissen, ich musste meine Lage überdenken. […] Und ich brauchte Stoff.

Britta Serwart

Der Gedanke, woher sie den nächsten Stoff bekommen könnte, begleitete Britta Serwart ständig und bestimmte ihren Alltag.

Platzspitz – das Drogenelend im Spielfilm

Trailer zum Film « Platzspitzbaby» aus dem Jahr 2020

Einen wichtigen Teil der Geschichtskultur machen Spielfilme aus. Der auf einer Autobiographie von Michelle Halbheer beruhende Kinofilm «Platzspitzbaby» thematisierte im Jahr 2020 eines der dunkelsten Kapitel Zürichs. Aus der Perspektive der 11-jährigen Mia sollte an die Drogenhölle in der Vergangenheit am Platzspitz erinnert werden. Die Verfilmung erzählt, wie es war, als Tochter einer heroinsüchtigen Mutter in Zürich aufzuwachsen. Besonders die Szenen, in denen die 11-Jährige Mia Drogen für ihre Mutter kaufen muss oder dazu genötigt wird, Zigaretten zu stehlen, zeigen, wie sie gezwungenermassen in die Spirale der Sucht hineingezogen wird.

Der Film wurde in den Rezensionen als «Wucht» beschrieben , da die Darstellung des Elends nur schwer zu ertragen sei. Besonders einprägsam ist die Geschichte deshalb, weil sie symbolisch für hunderte von «Platzspitzbabys» steht, welche noch heute mit Traumata zu kämpfen haben. Mit der Szene im Trailer, in der Mia weinend die Mutter umarmt, wird ein Dilemma verdeutlicht, vor dem wohl viele der betroffenen Kinder standen: Entscheiden sie sich für sich, für ihr eigenes Leben, oder für die Eltern, für die Sucht? Der Film möchte das Publikum daran erinnern, dass es in der Schweiz Menschen gibt, die noch immer, direkt oder indirekt, unter den Folgen der damaligen Drogenszene am Platzspitz zu leiden haben. Bereits im Trailer wird dieses Leid von Sucht betroffener Familien sichtbar – verkörpert in Mia und ihrer Mutter.

Dass der Film keinen Einzelfall in der Erinnerungskultur darstellt, zeigt auch eine neue Serie auf Amazon Prime, die seit 2021 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde: «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Das Sachbuch, welches als eines der ersten im deutschsprachigen Raum das Schicksal drogenabhängiger Kinder und Jugendlicher in Berlin schilderte, personifiziert in Christiane F., erschien 1978, wurde 1981 das erste Mal verfilmt und entwickelte eine ungeahnte Breitenwirkung bei der Drogenprävention auch in Schweizer Schulen.

Quellenverzeichnis

Titelbild
KEYSTONE/Martin Ruetschi (1990), Bild 7431505.

Platzspitz – Die Schweizer Drogenhölle
KEYSTONE/Martin Ruetschi (1990), Bild 7431505.

«Fixerinnen und Fixer»
Grob, P. J. (2009). Zürcher «Needle-Parkt». Ein Stück Drogengeschichte und -Politik (S. 69), 1968–2008. Zürich: Chronos, S. 62–63.

Die St. Galler Drogenszene:
Kühne, R. (o. J.). Momentaufnahme im Schellenacker.
Stadtpolizei St. Gallen (1990). Morgens um 7 Uhr im Bienehüsli.

Aufruhr in der Bevölkerung:
o. A. (29.08.1991). Beschwerdebrief. In Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St. Gallen. 5/194/19.
Vogler, G. (05.02.1994). Aktionstag gegen Drogen im Kreis 5. In Schweizerisches Sozialarchiv. F 5107-Na-18-135-012. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_5107-Na-18-135-012 (30.05.2021).

Nachbeben der Platzspitz-Schliessung:
SRF(07.02.1992). 10vor10. Offene Drogenszene in Zürich. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=InWv5G2HpPU (19.06.2021).

Schluss mit dem Drogenelend – Nehmen Sie teil an der Räumung des Letten
Egger, A., Möhr, O. & Raschle, I. (02.01.1995). Schluss mit dem Drogenelend: Nehmen Sie teil an der Räumung des Letten. In Nebelspalter. Online unter: https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=neb-001%3A1995%3A121%3A%3A307 (30.05.2021).
Vogler, G. (13.02.1995). Zettel der Kantons- und Stadtpolizei kündigt die Schliessung der offenen Drogenszene am Letten an. In Schweizerisches Sozialarchiv. F 5107-Na-17-080-002. Online unter: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_5107-Na-17-080-002 (30.05.2021).

Die Drogen fordern ihren Tribut:
Grob, P. J. (2009). Zürcher «Needle-Parkt». Ein Stück Drogengeschichte und -Politik (S. 69), 1968–2008. Zürich: Chronos, S. 69.

Nachwirkung der Suchthilfe
SRF (02.09.2015). Regionaljournal Ostschweiz. Die Geschichte eines Erfolgsweges. Online unter: https://www.srf.ch/news/regional/ostschweiz/25-jahre-stiftung-suchthilfe (30.05.2021).

Die Drogenszene in der Erinnerungskultur – Szenen aus dem Drogenalltag einer St. Galler Fixerin:
Serwart, B. (2003). Nur für einen Tag. Sequenzen aus dem Leben einer St. Galler Fixerin. Herisau: Appenzeller-Verlag, S. 104–105

Platzspitzbaby – das Drogenelend im Spielfilm:
AscotElite (2019). Platzspitzbaby Trailer. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=IVpiUJ35Dg0&t=1s (online unter: 19.06.21).

Sammelbibliographie

Binswanger, M. (19.05.2014). Das Platzspitz-Trauma. Keiner kommt hier lebend raus. Serie (3/4). In Tages-Anzeiger.

Boller, B. (2007). Drogen und Öffentlichkeit in der Schweiz. Eine sozialanthropologische Analyse der drogenpolitischen Kommunikation der 1990er Jahre. Wien: LIT-Verlag.

Classen C. (2008). Medien und Erinnerung. In Bundeszentrale für Politische Bildung. Online unter: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39857/medien-und-erinnerung?p=1 (08.11.2020).

Frehner, P. (1996). Drogenpolitik: zwischen Massenmedien und Drogenkampagne. In DrogenMagazin. Zeitschrift für Suchtfragen, 22, S. 20–23.

Grob, P. J. (2009). Zürcher «Needle-Parkt». Ein Stück Drogengeschichte und -Politik, 1968–2008. Zürich: Chronos.

Kieser, B. (o. J.) Die offene Drogenszene in Zürich. Sozialdepartement Stadt Zürich, Schweizerisches Sozialarchiv. Online unter: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/stadtarchiv/bilder_u_texte/geschichte-vor-ort/Offene-Drogenszene.html.

Meyer, B. (2020). Drogen fürs Volk. Online unter: https://blog.nationalmuseum.ch/2020/06/drogen-fuers-volk/.

Renggli, R. & Tanner, J. (1994). Das Drogenproblem (S. 1–17). Berlin & al.: Springer.

Serwart, B. (2003). Nur für einen Tag. Sequenzen aus dem Leben einer St. Galler Fixerin. Herisau: Appenzeller-Verlag.

SRF DOK (1994). Bericht von der Drogenfront (Bahnhof Letten). Online unter:
https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/bericht-von-der-drogenfront-1994?id=52e685b4- bbf9-450b-8e80-a81a1178ee3f (08.11.2020).

SRF DOK (2020). Endlich gibt es Zürichs dunkelstes Kapitel als Kinofilm. Online unter:
https://www.srf.ch/radio-srf-3/aktuell/platzspitzbaby-endlich-gibt-es-zuerichs-dunkelstes-kapitel-als-kinofilm (08.11.2020).

Tanner, J. (1995). «Himmel und Hölle». Die gespaltene Wahrnehmung des Drogenproblems in der modernen Gesellschaft. In Schweizer Schule, 82(1), S. 3–9.

Weibel T. (2019). Eine Stadt am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die offene Drogenszene in St. Gallen. In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine St. Galler Geschichte der Gegenwart. Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 235–257). St. Gallen: Verlagsgenossenschaft St. Gallen.

Die Autorinnen und der Autor

Elma Dervisevic

Sven Bartholet

Sedanur Matjani