Verkehr

Von der Spanisch-Brötli-Bahn bis zur Gründung der SBB

Vertiefung: Situation in der Ostschweiz

Die Linienführung der Eisenbahnen in der Schweiz wurde zum einen durch regionale, kantonale, nationale und internationale und zum anderen durch private und staatliche Interessen beeinflusst. Diese nicht selten entgegenlaufenden Interessen führten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem anfänglichen Wildwuchs im Eisenbahnbau und zu keinem zusammenhängenden, tragfähigen Eisenbahnnetz. Über staatlich geregelte Konzessionierungen wurde versucht, diesem Wildwuchs etwas entgegenzuwirken, was retrospektiv als ein erster Schritt in Richtung Verstaatlichung der Eisenbahn ausgelegt werden kann. Der Verstaatlichungsprozess führte zu Interessenskonflikten insbesondere zwischen den privaten und staatlichen Akteuren sowie den nationalen und internationalen Ansprüchen. Diese zeigten sich besonders stark beim Gotthard-Projekt. 

Streitpunkte waren die Finanzierung und Planung der Nord-Süd-Achse – wobei gerade die nichtgeklärte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen zu Beginn wenig förderlich war. Der Prozess der Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften wurde letztlich aber gerade durch das Gotthard-Projekt massgeblich beschleunigt. Die immensen Kosten für das Projekt waren für einzelne Kantone beziehungsweise Privatunternehmen nicht zu stemmen und riefen den Bund auf den Plan. 1898 wurde schliesslich in einer Volksabstimmung ein Bundesgesetz angenommen, welches dem Bund ermöglichte, Linien aufzukaufen und zu verwalten. Die voranschreitende Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften bedeutete jedoch nicht das Aus für Privatbahnen. Ein Beispiel dafür findet sich mit der Bodensee-Toggenburg-Bahn in der Ostschweiz. Diese wurde sogar erst nach 1898 ins Leben gerufen.

Entwicklung des schweizerischen Eisenbahnnetzes bis 1908

Karte mit einer Übersicht der Streckeneröffnungen der schweizerischen Eisenbahn von 1847-1908

Die Karte im Massstab 1:500’000 aus dem geografischen, volkswirtschaftlichen und geschichtlichen Atlas der Schweiz von 1907 zeigt den Ausbau des schweizerischen Eisenbahnnetzes von 1847 bis 1908 in verschiedenen Teilschritten. Nachdem in den 1830er Jahren in den Nachbarländern mit dem Bau von Eisenbahnen begonnen worden war, kamen auch in der Schweiz erste Bahnprojekte ins Gespräch. Es entbrannten Kämpfe speziell um die Linienführung im schweizerischen Mittelland und um den Verlauf der Nord-Süd-Achse.  

Im Jahre 1844 erreichte die Eisenbahn über die Bahnstrecke Strassburg-Basel erstmals schweizerischen Boden. Der von der Schweizerischen Nordbahn kurze Zeit später in Angriff genommene Bau der Strecke von Zürich nach Basel blieb 1847 aufgrund von Konzessionsstreitigkeiten bereits in Baden stecken. Mit dem ersten Eisenbahngesetz 1852 überliess der Bund den Bau und den Betrieb von Eisenbahnen sowie die Kompetenz zur Konzessionserteilung den einzelnen Kantonen, ohne diesen Vorschriften bezüglich Linienführung, Koordination oder Tarifpolitik zu machen. 

Die Finanzierung erfolgte hauptsächlich über Privatkapital, was die Eisenbahngesellschaften zu einer gewinnorientierten Bauplanung und Streckenführung zwang. Die Konkurrenzsituation zeigte sich sehr deutlich im Mittelland, das zum Zankapfel zwischen der auf die Ostschweiz konzentrierten Schweizerischen Nordostbahn (NOB) und der von Basler Kapital getragenen Schweizerischen Centralbahn (SCB) wurdeDie Konkurrenz beschleunigte den Bahnausbau massiv. Innert fünf Jahren hatte das Streckennetz bereits eine Länge von mehr als 1000 km, und es gab eine durchgehende Verbindung vom Bodensee bis nach Genf. Bis in die 1870er Jahre entstanden verschiedene Hauptlinien wie beispielsweise die Linie Basel-Olten mit Abzweigung nach Aarau, Luzern, Burgdorf-Bern-Thun beziehungsweise Herzogenbuchsee-Solothurn-Biel. Es bestand jedoch noch keine Nord-Süd-Verbindungen nach Italien. Am Streit um eine schweizerische Alpenbahn beteiligten sich ausser den schweizerischen Bahngesellschaften und Wirtschaftsregionen auch Deutschland, Italien und Frankreich. Der Entscheid der Vertragspartner fiel 1869 schlussendlich auf die Gotthardbahn, welche trotz finanzieller Schwierigkeiten 1882 eröffnet wurde. 

Die erste Eisenbahn als Transportmittel für Süssgebäck 

Lokomotive «Rhein» der ersten Eisenbahn auf schweizerischem Boden, der sogenannten Spanisch-Brötli-Bahn (Foto von 1867)

«Limmat», «Aare», «Rhein» und «Reuss» sind nebst den Namen der grossen Flüsse in der Schweiz auch die Namen der Lokomotiven der ersten Eisenbahnstrecke der Schweiz. Mit dem Bau der ersten Bahnlinie von Zürich nach Baden begann für die Schweiz ein neues Zeitalter, in welchem die Mobilität stetig verbessert wurde.

Als erste Binnenbahnstrecke war 1846 eine Linienführung entlang der Limmat, der Aare und des Rheins von Zürich nach Basel geplant. Aufgrund der Ablehnung des Projekts durch die beiden Basler Halbkantone und unzureichender finanzieller Mittel konnte nur die Strecke Zürich-Baden gebaut werden. Die Eröffnung wurde im August 1847 zelebriert. Die Eisenbahn startete im Zürcher Hauptbahnhof und erreichte 45 Minuten später Baden.

 

Das Bild zeigt eine der vier Lokomotiven der ersten Eisenbahn der Schweiz. Die Lokomotive «Rhein» war in der Lage, sechs Wagen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 30 Kilometern in der Stunde nach Baden

zu befördern. Die Eröffnungsfahrt bot Platz für 140 geladene Gäste. Die «Rhein» löste ihre Vorgänger «Limmat» und «Aare» nach knapp zwanzig Jahren Betriebszeit ab, der einzige Unterschied der neuen Lokomotive bestand in der zusätzlichen Doppelachse. Die Lokomotiven neuer Bauart, «Reuss» und «Rhein», wurden bereits nach einer kurzen Betriebszeit von nur vier Jahren (1864 bis 1868) ausrangiert. Die Abbildung zeigt die «Rhein» auf einer Drehscheibe im Zürcher Bahnhof, welche das Wenden eines Zuges ermöglichte.

Namensgebend für diesen historischen Meilenstein der Eisenbahngeschichte ist ein Badener Blätterteiggebäck, das «Spanisch Brötli». Dieses konnte nun innerhalb kürzester Zeit nach Zürich zu den wohlhabenden Häusern transportiert werden. Im 17. und 18. Jahrhundert mussten diese noch von den Dienstboten zu Fuss im 25 km entfernten Baden geholt werden, da es den Bäckern des reformierten Zürichs verboten war, ein solches Luxusprodukt herzustellen.

Nationalbahn versus Nordostbahn: Harmonie sieht anders aus 

Titelseite der «Nebelspalter»-Ausgabe vom 11. März 1876

Das Eisenbahnsystem der Schweiz wurde seit den 1850er Jahren als Privatbahnsystem konzipiert. Private wirtschaftliche Interessen standen somit im Fokus. Diese konnten potenziell mit jenen der Gesamtgesellschaft in Konflikt stehen. In der Tat führte das Privatbahnsystem zu Unzulänglichkeiten. So waren beispielsweise Doppelspurigkeiten einzelner Strecken wegen abweichender Schienenbreiten eine gängige Folge. Hinzu kam, dass die Fahrpläne nicht aufeinander abgestimmt waren, was das Reisen für die Passagiere langwierig und den Fahrkartenerwerb umständlich machte.  

Schon kurz nach ihrer Gründung 1875 begann die Nordostbahn ihre Winterthurer Konkurrentin Nationalbahn mit allen möglichen Mitteln bei der Ausbreitung zu behindern. Sie erachtete es als ihr alleiniges Recht, zwischen Winterthur und Zürich eine Eisenbahn zu betreiben. Das Ziel der Nationalbahn war es hingegen, die Monopolstellung der grossen drei Eisenbahngesellschaften (Nordostbahn, Schweizerische Centralbahn, Südostbahn) zu brechen und vom allgemeinen Eisenbahnboom zu profitieren. Dieses Vorhaben misslang jedoch, was dazu führte, dass die neue Gesellschaft bereits 1878 zwangsliquidiert werden musste und somit wieder von der Bildfläche verschwand. 

Die Illustration auf der Titelseite des «Nebelspalter» vom 11. März 1876 thematisiert genau dieses erbitterte Konkurrenzverhalten zwischen der Nationalbahn und der Nordostbahn am Brennpunkt Oerlikon. Die beiden Privatbahnen verabscheuen sich – so sieht das der Karikaturist Johann Friederich Boskovits – wie Hund und Katze und beschiessen sich gegenseitig mit «Gift und Galle».

Entgleisung der Staatsbahnidee 1891 

Der Rückkauf der privaten Eisenbahnen durch den Bund hatte erstmals im Jahre 1862 zur Debatte gestanden, scheiterte jedoch am Widerstand der Kreise um «Eisenbahnkönig» Alfred Escher. Nach der Eisenbahnkrise Ende der 1870er Jahre änderte sich die Situation aufgrund von akuten Finanzierungsproblemen und mangelnder SicherheitsbeachtungIn der Folge versuchte der Bund durch den freihändigen Kauf von Aktien seinen Einfluss auf bestimmte Bahnunternehmen zu erhöhen. 

Karikatur «Schweizer Eisenbahnverstaatlichungsseufzer» von Henri van Muyden mit dem Politiker Friedrich Emil Welti als Kondukteur der «Staatsbahn» 

Ein zentraler Akteur in der Verstaatlichungsfrage war der Schweizer Politiker, Rechtsanwalt und Richter Friedrich Emil Welti. Im Jahre 1867 in den Bundesrat gewählt, zählte er zu den einflussreichsten Politikern dieser Epoche. Ein Schwerpunkt von Weltis Tätigkeit im Bundeshaus war die Eisenbahnpolitik. So konnte er beispielsweise Italien und das Deutsche Reich davon überzeugen, das Gotthardprojekt zu unterstützen und dafür Subventionen zu sprechen. Da dies ein Projekt von nationaler Bedeutung war, sicherte er dem Bund zudem ein Aufsichts- und Mitbestimmungsrecht zu. 

Nach dem nicht geltend gemachten Rückkaufsrecht im Jahre 1883 stellte Welti die finanzielle Verwaltung der Bahngesellschaften unter die Aufsicht des Bundes. Nach vorerst gescheiterten Verhandlungen mit der Nordostbahn (NOB) konnte der Bund 1890 schliesslich ein grosses Aktienpaket der Jura-Simplon-Bahn übernehmen. Ein Jahr später schloss Welti mit der Schweizerischen Centralbahn (SCB) einen Rückkaufsvertrag ab, der vom Parlament genehmigt wurde. Gegen diese Vorlage kam allerdings ein Referendum zustande, und am 6. Dezember 1891 wurde der Rückkauf der SCB aufgrund der zu hohen Kosten und der generellen Bekämpfung der Staatsbahnidee vom Volk mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Diese Niederlage führte schlussendlich zu Weltis Rücktritt aus dem Bundesrat. 

Die Karikatur des «Nebelspalter» aus dem Jahre 1891 zeigt Bundesrat Friedrich Emil Welti (23. April 1825 – 24. Februar 1899) im Anzug eines Eisenbahnkondukteurs. Im Hintergrund der von Henri van Myden gezeichneten Karikatur ist eine einfahrende Lokomotive zu erkennen, an welcher eine Schweizerfahne angebracht ist. Sie symbolisiert die Idee einer schweizerischen Staatsbahn. Mit der Aussage des Kondukteurs Welti deutet van Myden an, dass ein Scheitern der Abstimmung nicht undenkbar sei: 

«Jo, jo, das geht ja wie gewünscht. Wenn nur der Radius der Referendumskurve nicht zu klein ist und die Maschine wieder entgleist.» Erst 1898 gelang seinem Nachfolger Josef Zemp die Verstaatlichung der wichtigsten schweizerischen Privatbahnen. Als eine der Führungsfiguren der Katholisch-Konservativen hatte Zemp 1891 noch aktiv mitgewirkt, die Verstaatlichungsvorlage zu Fall zu bringen. Im Anschluss wurde Zemp als erster nicht freisinniger Politiker in den Bundesrat gewählt und sogleich mit dem umstrittenen Eisenbahndossier betraut. 

«Die Schweizerbahnen dem Schweizervolk» 

Gedenkblatt in der «Nebelspalter»-Ausgabe vom 7. Mai 1898 

Das Gedenkblatt «Die Schweizerbahnen dem Schweizervolk» von Johann Friedrich Boscovits erinnert der Abstimmung vom. 20. Februar 1898. Es bringt den vorhanden Stolz über eine eigene Staatsbahn zum Ausdruck und ist geprägt von nationaler Ikonographie. Vor einem Alpenpanorama steht die geschmückte Helvetia auf dem Kopf der mit einer Fascis erstochenen Schlage mit der Aufschrift «Verneinung». Neben Hammer, Buch, Zahnrad und einer Eisenbahn – zu Symbolen einer nationalen Erfolgsgeschichte Schweiz stilisiert – sticht insbesondere ein Krug mit der Aufschrift «vox pupuli» (Stimme des Volkes) ins Auge. Umgeben ist die Landesmutter mit auf Vignetten abgebildeten Persönlichkeiten, welche das sogenannte Rückkaufsgesetz unterstützt hatten und sich demnach für das Wohl der Schweiz eingesetzt hatten. Es sind die Bundesräte Jakob Stämpfli, Emil Welti, Walter Hauser und Josef Zemp sowie Nationalrat Eduard Marti. 

Die Abstimmung vom 20. Februar 1898 über das «Bundesgesetz betreffend die Erwerbung und den Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes und die Organisation der Verwaltung der schweizerischen Bundesbahnen» wurde von den Stimmbürgern mit 67.9 Prozent deutlich angenommen. Das neue Gesetz auf Bundesebene ermöglichte, dass die vier grossen Eisenbahngesellschaften Schweizerischen Centralbahn, Schweizerische Nordostbahn, Vereinigte Schweizerbahnen und Jura-Simplon-Bahn inklusive einiger kleinerer Privatbahnen von der neu gegründeten Schweizerischen Bundesbahn (SBB) übernommen werden konnten. Die staatliche Eisenbahn dominierte nun den Schienenverkehr, auch wenn Privatbahnen nicht zur Gänze verschwanden.

Wer baut den Gotthardtunnel?  

Nebst der Wirtschaftskrise zwischen 1873 und 1890 und dem Wechsel der Eisenbahnhoheit von den Kantonen zum Bund stellte das Gotthard-Projekt einen wichtigen Katalysator für die Verstaatlichung der Eisenbahn dar, denn der enorme Finanzbedarf sprengte die Mittel der Privatbahnen. Es bedurfte einer bundesstaatlichen Koordination. Dies geschah jedoch nicht ohne Konflikte. Nebst unterschiedlicher Ansichten der privaten und staatlichen Akteure gehörte dazu die Frage, ob durch die internationale Beteiligung am Eisenbahnprojekt nationale Interessen gefährdet würden.

Ausschreibung des Gotthardprojekts von 1872

Die am 5. April 1872 veröffentlichte «Ausschreibung der Ausführung des grossen Alpentunnels der Gotthardbahn» stammte von der Gotthardbahngesellschaft. Die Ausschreibung enthält Angaben über die Länge und den Verlauf, das Gefälle sowie Höhe und Breite des Tunnels. Die Vorstellungen vom Tunnel sind bereits sehr konkret und beruhen auf vorgängig durchgeführten geografischen sowie geologischen Untersuchungen. Im Gegenzug verlangte der Präsident der Gotthardbahngesellschaft, Unternehmer und Nationalrat Alfred Escher, die Beschreibung der Baubedingungen, das vorgesehene Bauverfahren, die zu erwartende Bauzeit, die Kosten sowie Angaben zur Abgabe von Garantien in den Antworten auf diese Ausschreibung. Die Einreichungsfrist war kurz bemessen und lief bereits am 18. Mai 1872 ab. Die Gotthardbahngesellschaft entschloss sich schliesslich für die Offerte des Schweizer Bauunternehmers Louis Favre. Dieser mochte mit seiner bereits gesammelten Erfahrung sowie den Kosten und der Bauzeit für das Projekt zu überzeugen.

Letztlich konnte die Gotthardbahngesellschaft den finanziellen Aufwand nicht decken. Die Offerte von Louis Favre erwartete für den Bau des Tunnels Kosten von 42 Millionen Franken. Die Finanzierung stellte ein grosses Problem für dieses Mammutprojekt dar und sorgte für Konflikte zwischen Privatunternehmen, den Kantonen und dem Bund. Die Finanzierung wurde schliesslich auch durch Staatsverträge und ausländische Investoren gewährleistet. 95 Prozent der Gotthardbahnaktien waren nach der Eröffnung in ausländischen Händen. Dagegen wurden in der politischen Diskussion nationale und militärische Bedürfnisse angeführt. Die Diskussion über die Wahrung nationaler Interessen beförderte den Verstaatlichungsprozess nachhaltig. Dieser kann folglich auch als Abbild des auch in der Schweiz zu beobachtenden Bedeutungsgewinns des Nationalen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gesehen werden.

Kritik am Gotthardvertrag

«[…] Da der Gotthardvertrag auf unbegrenzte Dauer geschlossen werden soll, kann das ‹Genfer Journal› mit Fug und Recht ableiten, dass er uns auf ewige Zeiten verpflichten würde, den Kohlenbedarf für die S. B. B. nur aus Deutschland zu beziehen. Wenn der ‹Bund› sagt, wir wären nach wie vor frei, für Deckung des Kohlenbedarfes auch andere Länder heranzuziehen, so steht das in offenbarem Widerspruch mit dem Wortlaut vorerwähnter ‹ergänzender Erklärung› [In dieser Erklärung ging es unter anderem darum, dass sich die SBB dazu verpflichtet hätte, die Kohle künftig einzig aus Deutschland zu beziehen.] […] 

Wir Techniker und namentlich die Industriellen, die ihre Erzeugnisse mit der ganzen Welt austauschen müssen, haben vor allem das lebhafte Bedürfnis, mit unsern Nachbarn im Norden und im Süden, Osten und Westen, die guten Beziehungen sorgfältig weiter zu pflegen. Dazu bedarf es aber vor allen Dingen klarer und reinlicher Verhältnisse in allen gegenseitigen Abmachungen ; […] Dass aber der Vertragsentwurf mit seinem ‹Schlussprotokoll›, seinen ‹Ergänzenden Erklärungen› usw. solcher Hacken und Zweideutigkeiten eine ganze Anzahl bietet, liegt klar zutage, und dass solche Schwächen gegen uns unerbitterlich ausgenützt würden […].» 

Schweizerische Bauzeitung vom 9. November 1912

Auch nach dem Bau des Gotthardtunnels verstummten die Diskussionen um dieses Bauwerks nicht. Nach dem Beschluss zur Gründung einer Staatsbahn 1898 kaufte der Schweizerische Bundesstaat ab 1902 viele der in der Schweiz agierenden Eisenbahnunternehmen auf. 1909 wollte er auch die Gotthardbahn erwerben. Die am Bau des Gotthardtunnels beteiligten Nachbarstaaten Deutschland und Italien verlangten jedoch, dass dieser sogenannte Rückkauf nicht ohne ihre Zustimmung erfolgen dürfe. Der Rückkaufprozess wurde 1909 im Gotthardvertrag geregelt, der von der Schweiz 1913 ratifiziert wurde. Der Vertragsabschluss löste eine Protestbewegung aus. 

Seine Unterzeichnung akzentuierte bereits die während des Gotthardbahnbaus in den 1870er Jahren heiss diskutierte Frage, ob durch den Einbezug der Nachbarländer nationale Interessen der Schweiz tangiert würden. Gegen den Vertrag nahm auch die «Schweizerische Bauzeitun Stellung. Sie kritisiert in ihren Ausführungen die Konzessionen, welche die Schweiz gegenüber Italien und Deutschland hatte machen müssen, um die Gotthardbahn verstaatlichen zu können. Der Staatsvertrag würde die Schweiz in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Deutschland bringen und somit in ihrer nationalen Souveränität und im freien Austausch mit anderen Staaten einschränken. 

Qual der Wahl: Linienführung in der Ostschweiz 

Karte aus den 1890ern mit den verschiedenen Optionen der Linienführung zwischen Degersheim und Rapperswil

Die fortschreitende Verstaatlichung der verschiedensten Eisenbahngesellschaften bedeutete keineswegs das Aus für regionale Privatbahnen. So wurde in der Ostschweiz sogar erst nach der Gründung der SBB eine grosse Privatbahn lanciert. Die Aktionäre dieser Privatbahn waren aber ausschliesslich der Kanton St. Gallen und Gemeinden und im Gegensatz zur Hochphase der Privatbahnen private Geldgeber. 

Um 1894 wurden für die Verbindung des Toggenburgs mit Rapperswil vier Projekte mit unterschiedlicher Linienführung und Bauherren zur Konzessionierung eingereicht und genehmigt. Isidor Grauer-Frey, Stickereifabrikant aus Degersheim, der «geistige Vater» der Bodensee-Toggenburg-Bahnen, strebte die Linie St. Gallen – Wattwil, Wattwil – Rapperswil und die weitere Verzweigung nach Uznach oder Pfäffikon – Zug an. Parallel dazu wurde die Strecke Rapperswil  Ricken  Wattwil des Rapperswiler Nationalrats Bühler-Honegger, die Weiterführung der Toggenburg-Bahnen von Ebnat nach Nesslau sowie das Projekt des Uznacher Ständerats Schubiger von Ebnat nach Uznach vom Bund genehmigt. Das Vorrecht galt jenem, der zuerst die bautechnischen sowie finanziellen Mittel aufbringen konnte.

Die Konzessionierung durch den Staat war nicht eindeutig und zeugt davon, dass trotz des Verstaatlichungsprozesses für Privatbahnprojekte persönlich-regionale und wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund gerückt wurdenSchlussendlich konnte sich Grauer-Frey mit seiner Variante durchsetzen. Er hob sich von den Plänen der Konkurrenz ab, indem er das regionale Verkehrsnetz massgeblich verbesserte und gleichzeitig auch aus nationaler und internationaler Perspektive argumentierte. 

Ein heftiger Streitpunkt in der Linienführung war der Ricken, der zwei Bezirke vom Rest des Kantons St. Gallen abtrennte. Den 800 Meter über Meer liegenden Pass galt es entweder zu überwinden oder zu durchqueren. Die Überquerungsprojekte wurden vor allem vom Rapperswiler Nationalrat bevorzugt, hier wurde aber über die maximale Steigung sowie die Kurvenradien debattiert. Von den Tunnelvariantenerstmals lanciert von Isidor Grauer-Frey, starten vier in Wattwil und deren drei in Ebnat. In der Karte eingezeichnet sind die Überschienungsprojekte der VSB (blau) und die Tunnelvariante der BT (rot). Die rot eingezeichnete Variante wurde letztlich umgesetzt. 

 

Bruggens Brücken für die Südostbahn und die SBB

Die Spuren der vielfältigen Projekte um die Linienführung in der Ostschweiz zeigten sich neben den langwierigen Debatten um die Linienführung ebenfalls im Landschaftsbild. Die von Tälern geprägte Landschaft in der Ostschweiz erforderte den Bau vieler Brücken, was auch mit erheblichen Kosten verbunden war. Dennoch sind bis heute zwei Eisenbahnbrücken in Betrieb, eine für die Südostbahn und eine für die interregionalen Verbindungen der SBB. 

Postkarte der Eisenbahnbrücken über die Sitter aus dem frühen 20. Jahrhundert

Die Postkarte aus den 1930ern zeigt eindrücklich, wie Brücken das Landschaftsbild von St. Gallen prägen. Die auf der Postkarte ersichtlichen Brücken überqueren die Sitter bei St. GallenBruggen. Im Vordergrund ist die Kräzernbrücke abgebildet. Diese Strassenbrücke wurde 1811 erbaut und galt in der ersten Hälft des 19. Jahrhunderts als eine der modernsten Brücken in der Schweiz. Dahinter spannt sich das fünfbogige Sitterviadukt der SBB auf. Das Sitterviadukt der SBB ist Teil der Linie St. GallenWinterthur und wurde im Zuge des Doppelspurausbaus 1925 ausgebaut. Im Hintergrund steht das Sitterviadukt der heutigen Südostbahn (SOB) und früheren Bodensee-Toggenburg-Bahn (BT). Es ist Teil der Linie St. Gallen–Wattwil und wurde von 1908 bis 1910 Zuge der Errichtung der Bodensee-Toggenburg-Linie erbaut. Der Ursprung der ähnlichen Linienführung der regionalen und interregionalen Züge in der Ostschweiz ist somit bereits auf die Kinderschuhe der schweizerischen Eisenbahngeschichte zurückzuführen. Die sogenannten Kunstbauten wie Tunnels und Brücken wurden ein Kennzeichen der BT-Strecke, verlängerten aber auch die Bauzeit. Die Linienführung der BT erforderte insgesamt den Bau von 30 Brücken und 17 Tunnels. Insbesondere das Sitterviadukt sprengte den üblichen Rahmen einer Privatbahn mit 365 m Länge, einer Steigung von 16 Promille und einer Höhe von 99 m bei weitem. Die Dimensionen des Viadukts erforderten neue Massstäbe, so wurde ein Pfeiler der Brücke als höchstes Bauwerk auf St. Galler Boden errichtet 

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Quellenverzeichnis

Entwicklung des schweizerischen Eisenbahnnetzes bis 1908
Administration der Bibliothek des Geographischen Lexikons der Schweiz (Hrsg.) (1907). Geographischer, Volkswirtschaftlicher, Geschichtlicher Atlas der Schweiz. Neuenburg: Attinger, (1907), Karte N°35.

Die erste Eisenbahn als Transportmittel für Süssgebäck
Lokomotive Rhein 1867. Online unter https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Lokomotive_Rhein_1867.jpg (07.08.2019).

Nationalbahn versus Nordostbahn: Harmonie sieht anders aus
Boskovits, J. F. (1876). Wenn die N.B. und die N.O.B in Oerlikon kreuzt. In Nebelspalter v. 11.03.1876. Online unter: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1876:2#995 (07.08.2019).

Entgleisung der Staatsbahnidee 1891
Van Muyden, H. (1891). Schweizer Eisenbahnverstaatlichungsseufzer. In Nebelspalter v. 13.06.1891, Online unter https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=neb-001:1891:17::598 (07.08.2019).

«Die Schweizerbahnen dem Schweizervolk»
Boskovits
, J. F. (1898). «Die Schweizerbahnen dem Schweizervolk!». In Nebelspalter v. 07.05.1898. Online unter: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1898:24#2170 (07.08.2019).

Wer baut den Gotthardtunnel?
Gotthardbahngesellschaft (1872). Ausschreibung der Ausführung des grossen Alpentunnels der Gotthardbahn. In Neue Zürcher Zeitung v. 08.04.1972.

Kritik am Gotthardvertrag
o.A. (1912). Zum Gotthardvertrag. In Schweizerische Bauzeitung
 v. 09.11.1912. Online unter http://doi.org/10.5169/seals-30083 (07.08.2019).

Qual der Wahl: Linienführung in der Ostschweiz
Oswald, G. (2004). Die Bodensee-
Toggenburg-Bahn. Geschichte einer Ostschweizer Privatbahn. Herisau: Appenzeller Verlag, S. 14.

Bruggens Brücken für die Südostbahn und die SBB
Photochrom-Postkarte: 31145 Eisenbahnbrücken über die Sitter bei Bruggen (St. Gallen). © Photoglob AG.

Sammelbibliographie
Balthasar, B. (1993). Zug um Zug. Eine Technikgeschichte der Schweizer Eisenbahn aus sozialhistorischer Sicht. Basel, Boston & Berlin 1993, S. 17–79.  Bärtschi, H-P. (2012). Schweizerische Bundesbahnen (SBB). In Historisches Lexikon der Schweiz. Abgerufen von http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D42003.php. Benz, G. (2007). Gotthardvertrag. In Historisches Lexikon der Schweiz. Abgerufen von http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17251.php.  Galliker, H-R. (2003), Eisenbahn und Autobahn – Transportrevolutionen verändern St. Gallen. In Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 5: Die Zeit des Kantons 1798-1861 (121–138). St. Gallen: Niedermann Druck.  Oswald, G. (2004). Die Bodensee-Toggenburg-Bahn. Geschichte einer Ostschweizer Privatbahn. Herisau: Appenzeller Verlag.  Sandmeier, S. (2019). Ein Kanton sucht Anschluss. St. Gallens Anbindung an die schweizerischen Verkehrsnetze als Faktor der „Standortgunst“ (1850 – 2018). In Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hrsg.). Eine Geschichte der St. Galler Gegenwart – Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert (S. 207 – 234). St. Gallen: VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen. Schneider, B. (1996). Von der Privatbahn zur Bundesbahn. In von Arx H., Schnyder, P. & Wägli, H.G. (Hrsg.), Bahnsaga Schweiz. 150 Jahre Schweizer Bahnen (S. 126–133). Zürich: Silva.  Schneider, B. (1996). Unterwegs zur Eisenbahn: die ersten Schritte. In von Arx H., Schnyder, P. & Wägli, H.G. (Hrsg.), Bahnsaga Schweiz. 150 Jahre Schweizer Bahnen (S.18–21), Zürich: Silva. 

Die Autorin und die Autoren

Pascal Vetsch
Vanessa Bandel
Pascal Dörig
Manuel Wildhaber

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